Deine Lippen, so kalt (German Edition)
mir nicht – das lese ich in ihren Augen –, aber es ist tatsächlich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ich habe die ganze Nacht von dem Baum geträumt, gegen den Beckers Auto gekracht ist, wie er seine dürren Glieder um mich schlang, bis ich keine Luft mehr bekam, von Danny, der ins Bliss spazierte, die Haut grau und zerfetzt, die Augen so tot wie die Steine, die aus seinen Hosentaschen fielen, und das ganze Café war voll; meine Mutter und Jess und Gabriel und Trevor, sie alle warteten darauf, dass ich ihn entdeckte, drehten mich um, damit ich sah, wie er blutige Tränen auf die Theke weinte.
Mein Unterbewusstsein ist anscheinend nicht sehr subtil.
Der Donnerstag läuft nicht viel besser, besonders weil ich wieder bis zwei damit beschäftigt gewesen bin, Danny davon zu überzeugen, dass ich jetzt nach Hause muss. Ich bin dermaßen müde, dass ich wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut fahren könnte, und als mir nach Geschichte mein Rucksack runterfällt, blöke ich Alicia Ferris an, weil sie ein Foto davon macht, wie ich meine Blöcke, meinen iPod und eine zerknautschte Packung Kaugummi vom Boden klaube.
»Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!«, zische ich, blinzle geflasht vom Blitz und fühle, wie eine gefährliche messerscharfe Wut den seidenen Faden zu durchtrennen droht, an dem meine Selbstkontrolle in diesem Moment noch hängt. Ich kauere unvorteilhaft auf dem Gang und halte einen teilweise ausgewickelten Tampon in der einen und einen vergessenen, vertrockneten Apfel in der anderen Hand.
»Das kommt ins Jahrbuch«, sagt sie, grinst schadenfroh und hebt die Kamera, um ein weiteres Foto zu schießen.
Mir reicht’s – ich habe nicht mal Gelegenheit darüber nachzudenken, was ich gern mit ihr anstellen würde, als eine kribbelnde Energiewoge mich erfasst und der Sprinkler über Alicias Kopf Wasser sprühend zum Leben erwacht. Ich stolpere rückwärts, aus der Gefahrenzone, während sie loskreischt und ihre Kamera fallen lässt.
Überall auf dem Gang rufen und lachen die Leute, und in Sekundenbruchteilen hat Andy Petrov nur noch Socken an, mit denen er über den nassen Flur schlittert und dazu mit dem Kopf wackelt wie ein Welpe. Alicia steht immer noch unter Schock und ist klatschnass. Sie ignoriert die kaputte Kamera und hält lieber die nasse Kleidung von ihrem Körper weg. Wimperntusche tropft ihre Wangen runter, als wären es schwarze Tränen.
Als schließlich Direktor Gorder um die Ecke biegt, kommt der Sprinkler spuckend zum Stehen. Da bin ich schon halb den Gang runter Richtung Cafeteria. Ich bin nicht länger müde, aber ich fühle mich ausgebrannt, leer, und weit entfernt davon, Befriedigung zu empfinden, die Schuld rumort bereits in mir und verursacht mir Sodbrennen. Dabei kann ich Alicia nicht mal ausstehen.
Jess wartet auf mich, was schon wieder völlig normal ist, und ich kann nur einen flüchtigen Blick auf Gabriel werfen, bevor ich mich an den Tisch setze, den sie ausgesucht hat. Er wirft mir ein kleines Lächeln zu, ehe er sein Handy in die Höhe hält, und die Erleichterung, die daraufhin kurz in meiner Brust aufflackert, bewirkt, dass sich zu dem Berg aus Schuldgefühlen, die ich ohnehin schon habe, noch eine extra Portion schlechtes Gewissen gesellt. Er wird mir also eine SMS schicken, und ich hasse mich dafür, wie groß meine Sehnsucht ist, sie zu lesen, wie sehr ich mir wünsche, die Schule wäre aus, damit ich mit ihm reden kann, anstatt den morgigen Spaßabend mit Jess zu planen.
Als ich Gabriel eine halbe Stunde nach Schulschluss hinter der Bibliothek treffe, ist mein Akku wieder vollkommen leer. Ich bin nicht mal in der Lage, an den Essay zu denken, den ich schreiben soll, geschweige denn an die neuen Matheaufgaben, auch wenn ich weiß, dass meine Noten sich im freien Fall befinden. Aufs College zu gehen erscheint mir heute wie eine weit entfernte Unmöglichkeit, noch dazu eine, die im Gegensatz zu den nächsten vierundzwanzig Stunden kaum von Bedeutung ist.
»Hey.« Gabriel lehnt an der ausgeblichenen roten Backsteinmauer und stößt sich von ihr ab, als ich um die Ecke des Gebäudes biege. Gestern bin ich nie näher als bis auf zwei Meter an ihn herangekommen, und ich mache mir nicht mal die Mühe, mein Tun infrage zu stellen, sondern laufe direkt in seine Arme. Wir stoßen mit einem leichten Rums zusammen. Ich glaube nicht, dass er damit gerechnet hatte, aber das ist mir egal.
So wie seine Arme mich umfangen, unter meinen Rucksack gleiten, ist es ihm ebenfalls
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