Deine Lippen, so kalt (German Edition)
Verantwortung liegt, dass ich das allein regeln kann, aber das kann ich nicht. Ich presse meine Wange an seine Brust und schlucke noch mehr dumme, verhasste Tränen hinunter. Ich kann es nicht allein regeln und eigentlich ist mir das schon seit Wochen klar.
»Ich mache es wieder gut.« Die Worte werden von seinem Pulli erstickt, aber als ich den Kopf hebe, um ihn zu küssen, weiß ich, dass er mich gehört hat.
Als der Wecker um sechs Uhr dreißig klingelt, habe ich nicht eine Minute geschlafen. Ich bin so müde, dass ich mich wie betrunken fühle, und ich bin ziemlich sicher, das Adrenalin ist der einzige Grund, warum ich mich überhaupt bewegen kann.
Ich sitze auf der Bettkante, als Mom die Tür öffnet und den Kopf in mein Zimmer steckt, wie sie es fast jeden Morgen tut.
»Bist du wach, Kind?« Sie hat noch immer das alte Flanellshirt an, das sie zum Schlafen trägt, und einen roten Abdruck von ihrem Kissen auf der Wange.
»Mehr oder weniger«, bekomme ich heraus und studiere meine nackten Füße, bis sie die Tür hinter sich zuzieht.
Ich beeile mich mit Duschen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich die leere Garage vor mir, die Verwirrung in Dannys Augen, als er mir sagte, er könne nicht denken, das unvorstellbar schreckliche Bild, wie er mit ausgestreckten Armen auf seine Mutter zugeht …
Und jetzt haben wir helllichten Tag. Jeder könnte ihn sehen, diese Marmorstatue von einem Jungen mit toten Augen und kalten grauen Lippen. Ich ziehe rasch Jeans und Stiefel an und werfe mir einen zerschlissenen schwarzen Kapuzenpulli über ein schmutziges T-Shirt. Meine Hände wollen einfach nicht aufhören zu zittern. Ich weiß nicht länger, was davon Adrenalin ist und was meine Kräfte sind, da ist zu viel von beidem, ein ständiges, pulsierendes Summen unter meiner Haut.
Mein Mathebuch zerbröselt zu einem Haufen toter Blätter, als ich es aus meinem Rucksack ziehe, und als ich versuche, mir die Haare zu machen, färben sie sich abwechselnd lila und blau, bis ich aufgebe. Ich muss mich beruhigen, aber wenn Wünschen helfen würde, wäre ich längst unten und würde Kaffee trinken und vorgeben, auf dem Sprung in die Schule zu sein.
Wenn Wünschen helfen würde, wäre Danny oben auf dem Garagenspeicher und ich wäre … ich weiß nicht wo. Im Bett. Im Koma. Im Moment klingt das ziemlich verführerisch.
Mein Handy klingelt, als ich endlich mein Zeug zusammengesucht habe und auf dem Weg in die Küche bin. Ich mache mir nicht die Mühe, auf das Display zu gucken, bevor ich es aufklappe – es muss einfach Gabriel sein.
Mein Hallo hat den Mund noch nicht ganz verlassen, als ich höre: »Ich habe ihn gefunden.«
Kapitel sechzehn
D ie ganze Sache mit dem Elternkennenlernen hat mich eigentlich nie besonders nervös gemacht. Mein Kleidungsstil ist vielleicht gewöhnungsbedürftig, und ich habe eine Menge Löcher in den Ohren, aber ich bin klein und höflich und die meisten Mütter, die ich getroffen habe, hatten nicht das geringste Problem damit, dass ich mit ihren Kindern befreundet war. Sogar Dannys Mom, die in ihren Twinsets und beigefarbenen Stoffhosen aussieht wie eine aus dem Ei gepellte Fernsehserienmutter, liebte mich.
Aber jetzt habe ich eine Heidenangst davor, Gabriels Schwester Olivia kennenzulernen.
Im Grunde bin ich schon allein deshalb vollkommen panisch, weil Gabriel einmal quer durch die Stadt laufen musste, um zu dem Park zu gelangen, wo er Danny gefunden hat – was bedeutet, dass Danny diese ganze Strecke ebenfalls zurückgelegt hat.
Es ist der Ort, wo er gestorben ist. Und von dem ausgehend, was Gabriel am Telefon gesagt hat, erinnert sich Danny inzwischen an jede Minute davon. Gabriel will nicht zu nah an ihn herangehen, was ich ihm kaum verübeln kann, aber er hat mir erzählt, er könne Danny von dem Schuppen aus hören, hinter dem er sich versteckt hat und wo er auf mich wartet. Manchmal murmle Danny vor sich hin, manchmal schreie er. Sachen über Becker, das Auto, jene Nacht.
Mich.
Wenn ich so darüber nachdenke, ist Olivia kennenzulernen weitaus weniger beängstigend, als Danny wiederzusehen. Trotzdem zittert meine Hand, als ich an die Tür ihres Appartements klopfe.
Sie muss auf mich gewartet haben. Die Tür öffnet sich, kaum dass ich die Hand weggezogen habe, und das Mädchen auf der anderen Seite sieht Gabriel so ähnlich, dass ich überrascht blinzle. Sie ist älter, klar, aber ihr Haar hat dieselbe kühle aschblonde Farbe, und ihre Augen sind vom selben Grau, nur eine
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