Deine Lippen, so kalt (German Edition)
bisschen gepresst klingt, werde ich mich nicht bei ihm entschuldigen. Nicht hier und nicht heute jedenfalls.
»Was, wenn er da drin ist?«, flüstere ich und spähe über die Straße. »Oder, ich weiß auch nicht, auf der hinteren Veranda?«
»Wenn er drinnen wäre, würden wir Licht sehen, meinst du nicht?« Er wirft mir einen Blick zu. »Stell dir vor, dein toter Sohn kommt hereinspaziert …«
»Schon klar.« Ich massiere mir erschöpft die Schläfen. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie seine Mutter gucken würde, wenn das geschähe. Entsetzt? Erleichtert? Überglücklich? Verwirrt? Alles auf einmal?
»Lass uns nachsehen, okay?« Gabriels Hand in meinem Rücken ist ausreichend Motivation, damit ich die Straße überquere. Wir laufen die Einfahrt mit gesenkten Köpfen hoch und ich weiß nicht mal, wonach wir Ausschau halten, als Gabriel über das trockene Gras nach links ausschert.
Doch dann sehe ich es. Schleifspuren im Gras, als wäre etwas darübergezerrt worden. Und Fußabdrücke auf den Stufen der Veranda bis hin zur obersten, wo die dazugehörige Person offenbar innegehalten und sich wieder abgewandt hat.
»Er war hier«, flüstere ich und gucke die Straße hinunter, als könne ich dort sehen, wie er davongeht.
»Er ist nicht reingegangen«, sagt Gabriel und klingt besorgt. »Er ist … irgendwo anders hin. Komm mit.«
Er zieht mich vom Rasen der Greens und die Straße entlang bis zur nächsten Ecke. Plötzlich bin ich so erschöpft, dass ich mich einfach fallen lasse und hart auf dem Bordstein lande. Die Zahl an Orten, wo Danny hingegangen sein könnte, scheint endlos. Zu Becker, Ryan oder der Schule, sogar zum Café …
»Lass mich sehen«, sagt Gabriel und packt meine Schultern, er schüttelt mich sanft, bis ich zu ihm hochgucke.
»Was denn sehen?«
»Wo er vielleicht hingegangen ist, Orte, die ihm etwas bedeuten«, erwidert er und sieht mir tief in die Augen.
Ich versuche zu entspannen, mich zu öffnen und mir die Orte vorzustellen, an denen Danny und ich waren, Orte, an denen Danny mit seinen Freunden abgehangen hat, alle nur denkbaren. Ich spüre den Ruck, als Gabriel die Unfallstelle sieht. Seine Finger graben sich in meine Schultern, als die Erinnerung an den Baum in meinem Kopf aufblitzt, der knorrige Stamm noch immer verbrannt, Teile der Motorhaube, die mit der Rinde verschmolzen sind.
»Ich kann dich hinbringen«, sage ich, als er mich loslässt. »Trotzdem müssen wir überall nachsehen. Er könnte zu Ryans Haus gegangen sein oder …«
»Nein.«
Ich blinzle. »Was meinst du mit ›Nein‹?« Komm schon, Gabriel, wir können nicht einfach hier rumsitzen. Ich kann nicht einfach hier rumsitzen. Ob du nun mitkommst oder nicht, ich muss ihn finden!«
Er greift nach meiner Hand, als ich aufstehen will, und zieht mich wieder runter, und ich kann mich nicht aus seinem Griff befreien. Wieder schießt Energie durch meinen Körper, drängend und aufgebracht, ein unkontrolliertes Summen, das verzweifelt einen Ausweg sucht, aber Gabriel sagt: »Schhh, hör mir zu.«
Ich hole tief Luft und versuche zu entspannen, damit seine Stimme dieses schreckliche Summen durchdringen kann.
»Es ist nach drei. Du musst nach Hause.« Ich schüttle den Kopf, im Begriff aufzubegehren, aber er redet weiter, seine starke Hand hält meine fest umschlungen. »Das hier ist übel, okay? Aber ich kann ihn finden oder zumindest weiter nach ihm suchen. Ich meine, es wäre schlimm genug, wenn deine Mom bereits entdeckt hätte, dass du nicht da bist, aber was ist, wenn es Morgen wird und du immer noch fort bist?«
Eine neue Welle Übelkeit brandet in mir auf. Mom. So weit hatte ich noch gar nicht gedacht, ich wollte nur Danny finden und ihn zurück in die Garage bringen.
Auf der anderen Straßenseite bellt ein Hund und ich erschrecke mich beinah zu Tode. In der nächtlichen Stille klingt es viel zu nah, und Gabriel und ich stehen gleichzeitig auf, um uns im Schatten einer riesigen Pinie zu verbergen. Die Nachbarschaft liegt noch im Schlaf, aber in der Ferne höre ich ab und zu ein Auto auf der Mountain Avenue vorbeifahren, und jede Minute werden Kids, die Zeitungen austragen, die Straßen auf und ab radeln.
»Geh nach Hause«, sagt Gabriel, schlingt seine Arme um mich und zieht mich an sich. »Geh nach Hause und tu so, als würdest du dich für die Schule fertigmachen, und wenn du das Haus verlässt, rufst du mich an. Ich werde weitersuchen.«
Ich möchte sein Angebot ablehnen, ihm sagen, dass es nicht in seiner
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