Deine Lippen, so kalt (German Edition)
habe oder zumindest den Rand der Stadt.
Wie ein erbärmlicher Feigling. Gott, diese Stimme hält aber auch nie den Rand. Sie ist immer da, immer bereit, mit dem Finger auf jedes entsetzliche, dumme Ding zu zeigen, das ich zu ignorieren versuche. Falls sie mein Gewissen ist, schiebt sie Überstunden, ohne dass jemand sie darum gebeten hätte.
Ich hocke noch immer auf dem Sofa, das Telefon in meiner Hand, als Gabriel ins Zimmer kommt und sich neben mich setzt. Einen Moment lang ist er so regungslos wie Danny, aber dann spüre ich seine Hand zwischen meinen Schulterblättern, ein Gewicht, das mir Halt gibt. Es wäre verführerisch, sich zurücksinken zu lassen, sich von ihm auffangen zu lassen, aber das darf ich nicht. Das werde ich nicht.
Der Druck von Gabriels Hand wird stärker, und ich wende ihm endlich mein Gesicht zu und sehe ihm in die Augen. In ihnen lese ich die Dinge, die er zu sagen überlegt, wie auf einem Spruchband.
»Sag nicht, dass alles wieder gut wird.«
Sein Lächeln ist klein und traurig, und ich fühle mich etwas schuldig, weil ich so kalt zu ihm bin. »Mache ich nicht. Das wird es nicht. Aber du wirst es überstehen. Und ich kann dir dabei helfen, Wren. Ich verspreche, dass ich dir helfen werde.«
»Warum?« Ich stoße mich vom Sofa ab und gehe quer durch den Raum auf die andere Seite des Zimmers. Die Arme habe ich vor der Brust verschränkt, als könne ich so all die Dinge zurückhalten, die ich sagen will, sagen sollte. »Es ist nicht dein Problem.«
»Du weißt, warum.«
»Dann musst du genauso verrückt sein wie ich«, sage ich und die Worte hängen in der Stille, schroff und hässlich. »Warum solltest du mit mir zusammen sein wollen? Nach … nach all dem hier?«
»Nichts ist so schwarz und weiß, wie du es malst, Wren.« Als er zu mir hochsieht, ist das Grau seiner Augen dunkel und verhangen und in ihnen tobt ein Sturm. »Das weißt du.«
»Was ich weiß, ist, dass ich jetzt nach Hause gehen und meiner Mutter erklären muss, wo ich den ganzen Tag war, und dann muss ich versuchen, Jess und Dar dazu zu bringen, mir zu vergeben, dass ich unseren gemeinsamen Abend ruiniert habe, und dann muss ich herausfinden, wie …« Die Worte, die ich brauche, um meinen Satz zu beenden, bleiben mir im Halse stecken, aber ich schätze, er versteht auch so, was ich meine. »Oh Gott, wie soll ich ihn bloß zurück in die Garage kriegen?«
»Was redest du da?« Inzwischen ist er ebenfalls auf die Beine gesprungen und sieht mich an, als hätte ich jetzt ernsthaft den Verstand verloren. »Wir haben doch beschlossen, ihn hierher zu bringen.«
»Für den Moment«, sage ich hilflos. »Weil es hell war. Er kann nicht hier bleiben!«
»Warum nicht?«
Er ist derjenige, der die Realität komplett verleugnet, aber er sieht mich immer noch an, als wäre ich die Verrückte von uns beiden.
»Ja klar, Olivia wird begeistert sein.« Ich ziehe meine verächtlichste Grimasse, diejenige, die mir schon unzählige Male Ärger mit den Lehrern eingehandelt hat. »Ich sehe es bildlich vor mir, du wirst ganz vernünftig und ruhig sagen: ›Olivia, da gibt es dieses Mädchen, auf das ich stehe und das ungefähr so am Ende ist, als hätte sie die Hauptrolle in einer griechischen Tragödie, und wir müssen ihren toten Freund für eine Weile bei uns aufnehmen, okay?‹ Das wird großartig laufen. Lass mich wissen, wenn sie dich mit einer Therapie und den Wohlfühldrogen versorgt.«
»Sie weiß es schon.«
Mir fällt die Kinnlade runter. »Was?«
»Sie weiß es schon. Wir haben geredet, als du geschlafen hast, bevor sie zur Arbeit gegangen ist.«
Mein Herz setzt einen Schlag aus, einen beängstigenden Moment, in dem es ungeschützt und nach Luft ringend in meiner Brust zu hängen scheint.
»Gabriel, was genau hast du ihr erzählt?«
Er kommt näher und nimmt meine Hand. »Die Wahrheit.« Er zuckt mit den Schultern.
»Die Wahrheit.« Meine Stimme klingt schwach und mir fällt nicht ein, was ich sonst noch sagen könnte. Ich war davon ausgegangen, wir würden sie glauben lassen, Danny sei mit Drogen oder sonst was zugedröhnt, was schlimm genug gewesen wäre – aber die Wahrheit?
Mein Mund steht immer noch offen, als Gabriel meine Hand drückt. »Sieh mal, ich weiß, das alles ist seltsam, aber genau wie du mir habe auch ich dir ein paar Dinge verschwiegen. So was wie das hier haben wir zwar noch nicht erlebt, aber vertrau mir, okay? Es ist in Ordnung.«
»Wie kann es in Ordnung sein, Gabriel?« Ich ziehe meine Hand
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