Deine Lippen, so kalt (German Edition)
gesagt hat, kommt das Summen direkt unter meiner Haut brüllend in Fahrt, knistert vor brennender, unbändiger Wut. Die Recherche ist beinah erholsam, auch wenn ich nach einem Weg suche, die schrecklichste Sache hinzubekommen, die ich mir überhaupt vorstellen kann.
Es überrascht mich nicht, dass Mom mir nicht die Treppe hinaufgefolgt ist, denn darüber zu reden, was wir sind, ist stets das Letzte, was sie will. Als sich jetzt die Tür öffnet, stoße ich das Zauberbuch, in dem ich lese, unter das Bett und wappne mich, aber es ist nicht meine Mutter, es ist Robin.
Sie hat sich so in sich zurückgezogen, wie sie es jedes Mal tut, wenn Mom und ich uns streiten; das Haar fällt ihr ins Gesicht, ihr Mund ist verkniffen. Sie wartet nicht darauf, hereingebeten zu werden, sondern lässt sich neben mich auf das Bett fallen und knurrt im selben Moment: »Scheiße, Wren, was hast du da drunter?« Sie rutscht zur Seite und schlägt die Bettdecke zurück, unter der die anderen Bücher versteckt sind, und ich schnappe sie mir, bevor sie einen genauen Blick darauf werfen kann. Hoffe ich.
»Oh, als wäre dein Zimmer so viel aufgeräumter«, sage ich und schiebe die Bücher in die unterste Schublade meines Schreibtischs. »Was ist los, Süße?«
»Nenn mich nicht so«, grummelt sie, aber sie steht nicht auf und zieht beleidigt ab, wie sie es normalerweise tun würde. Stattdessen klaubt sie einen losen Faden vom Saum ihres Pullis und macht es sich im Schneidersitz bequem.
Ich möchte sie anbrüllen, das Zimmer zu verlassen, aber ich kann nicht. So nervig sie auch sein kann, Robin ist meine kleine Schwester, und sie sieht so verloren und verwirrt aus, wie ich es noch nie erlebt habe.
»Was ist los?« Ich setze mich wieder neben sie und streiche ihr das Haar aus der Stirn, kämme es mit meinen Fingern zurück, die ich zu einem breiten Kamm geformt habe.
»Sag du es mir.« Ihr Blick ist so ehrlich, sie lässt mich darin alles lesen, was sie fühlt. »Mom … benimmt sich seltsam. Noch seltsamer als sonst.«
»Was meinst du damit?«
»Sie hat Laub im Garten verbrannt. Ohne Streichhölzer. Und das Feuer war blau und lila und grün.«
Scheiße.
»Sie hat damit aufgehört, als ich zu ihr rausgekommen bin, aber Wren …« Robin schüttelt den Kopf und ein erster Anflug von Tränen lässt ihre Augen feucht glitzern. »Ich verstehe es einfach nicht. Ich meine, sie will es mir nicht erklären, und du willst es mir nicht erklären, und jetzt fängt es bei mir an …«
Scheiße. Ich lege einen Arm um sie und ziehe sie an mich, und ich spüre die mächtige Energie in uns beiden – meine Wut und ihre Verzweiflung sind miteinander verwoben und vibrieren summend.
»Ich weiß«, sage ich zu ihr und fühle mich nutzlos und hilflos und bin so wütend auf meine Mutter und mich selbst, dass ich mit ihr weinen könnte, wenn es nicht so viel befriedigender wäre, stattdessen lauthals zu schreien.
Ich habe mich immer fest an meine Erinnerungen an Dad geklammert, der groß war und warm und lächelte, wenn er mich ins Bett brachte und die Bettdecke um mich herum feststeckte oder mich auf seine Schultern hob. Und ich habe mir nicht erlaubt, die Zeiten zu vergessen, als Tante Mari und Gram beinah zur Einrichtung unseres Hauses gehörten. Tante Mari war immer da, für gewöhnlich lachte und scherzte sie mit Mom, und Gram war viel mit mir draußen, sah mir beim Spielen zu oder beugte sich über die Blumenbeete und brachte Tulpen und Osterglocken dazu, ihre Kelche zu öffnen. Alles, was Gram damals gepflanzt hat, ist inzwischen eingegangen.
Zu viele dieser Erinnerungen sind bloß noch flüchtige Bruchstücke, die sich schwer von mir einfangen lassen: Tante Mari, die Baby Robin etwas vorsingt und dabei mit der Hand durch die Luft fährt, sodass glitzernde bunte Bänder zu ihrer Melodie tanzen. Gram, die sich über einen Topf auf dem Herd beugt und den Flammen mit einem Winken bedeutet, höher zu züngeln, damit sich die guten Gerüche in der Küche ausbreiten. Alle drei, Mom, Mari und Gram, wie sie am Esstisch sitzen und alte Fotos ansehen, während einige davon in der Luft auf- und abtaumeln, damit jeder sie sehen kann. Dad, nie weit entfernt, lächelnd, nicht wirklich Teil des Ganzen, aber zufrieden damit, ihm beizuwohnen.
Aber Robin erinnert sich an nichts davon. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: dass sie es nicht tut oder dass ich es tue. Dass ich mich an eine Zeit erinnere, in der unsere Kräfte nicht von Mom verleugnet wurden und Tante Mari
Weitere Kostenlose Bücher