Deine Lippen, so kalt (German Edition)

zu verbergen, sie zu kontrollieren, und plötzlich jagt es mir Angst ein, dass sie es in diesem Augenblick nicht mal versucht.
    »Warum?«
    Jetzt kommt der schwierige Teil. Soll ich lügen und behaupten, Jess, Darcia und ich hätten alle zusammen blau gemacht, um uns auf die Pyjamaparty heute Abend einzustimmen? Würde sie überhaupt glauben, dass Dar einen ganzen Tag schwänzt? Jess ist nicht der Strebertyp, aber Darcia befolgt die Regeln, als hinge ihr Leben davon ab.
    Andererseits möchte ich ihr nicht von Gabriel erzählen, nicht jetzt, vielleicht eine ganze Weile noch nicht. Und selbst wenn ich es täte, würde ich nicht wollen, dass das Erste, was sie über ihn erfährt, ist, dass wir zusammen blau gemacht haben.
    »Ich habe Jess und Darcia angerufen«, sagt Mom, während ich noch rotiere und versuche, mir eine glaubhafte Story auszudenken. »Wenn du also meinst, du könntest sie in das Lügengespinst einbauen, an dem du gerade werkelst, spar dir die Mühe.«
    Ich recke das Kinn vor. Also schön. Es gibt keinen Grund, jemand anderen in diese Sache mit reinzuziehen, die ich mir ganz allein eingebrockt habe.
    »Ich habe nicht vor zu lügen«, sage ich und bin stolz, dass meine Stimme dabei kein bisschen zittert. Alles andere an mir tut es jedoch, egal ob es für Mom sichtbare oder unsichtbare Körperteile sind. »Ich war … schlecht drauf. Ich habe blau gemacht. Das ist alles.«
    »Das ist alles.« Sie hebt eine Augenbraue. »Und es wäre zu viel von dir verlangt gewesen, wenigstens einen meiner Anrufe zu beantworten?«
    »Ich habe die Schule geschwänzt, Mom.« In mir erwachen meine Kräfte zum Leben, eine summende Mischung aus Erschöpfung und Ohnmacht. Warum kann sie es nicht einfach hinter sich bringen und mich bestrafen? »Ich war nicht in der Stimmung, mit dir zu plaudern.«
    Sie schnaubt und kommt noch einen Schritt näher. »Und du hast gedacht, mich den ganzen Tag im Ungewissen zu lassen, wäre besser, als mir zu verraten, dass du schwänzt? Hast du wirklich geglaubt, ich wäre wütender über den einen verpassten Schultag als darüber, mich den ganzen Tag lang fragen zu müssen, ob du einen Unfall hattest oder nur beschlossen hast, wegzulaufen?«
    »Mom …«
    »Nicht!« Auf das Wort folgt ein einzelner kurzer Energiestoß und die Luft um uns flimmert. Sie ignoriert es, genau wie immer. »Wir haben doch darüber gesprochen, wie wichtig es ist, die Wahrheit zu sagen, Wren. Warum bist du nicht ehrlich zu mir?«
    Mir reichts – ich bin zu müde und zerschlagen, um weiter dagegen anzukämpfen.
    »Ja, Mom, warum wohl?« Mir ist klar, dass ich jetzt sichtlich zittere, und ich kann nicht verhindern, dass mir eine Energiewelle entschlüpft, die an den Fenstern und den Bilderrahmen rüttelt, die an der Wand hängen. »Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung einmal ehrlich zu mir wärst?«
    Sie guckt mich an, als hätte ich sie geschlagen. Und als sie nichts erwidert, schüttle ich bloß den Kopf. Ich wusste es.
    Ich poltere die Treppe hoch und knalle die Tür von meinem Zimmer so fest zu, dass es sich anfühlt, als würde die ganze Welt erzittern.
    Weder Jess noch Darcia gehen ans Telefon, selbst als die Schule aus ist. Ich simse beiden ES TUT MIR SO LEID und LASS ES MICH ERKLÄREN , aber ich weiß, dafür ist es zu spät. Heute Abend wollten wir unsere große Wiedervereinigung feiern, die Rückkehr zu den Tagen, als Pyjamapartys am Wochenende eine Selbstverständlichkeit waren, als wir alles miteinander teilten und nicht für möglich gehalten hätten, dass eine von uns sich je etwas anderes wünschen könnte.
    Jetzt ist das fast unmöglich geworden. Jetzt müsste ich ihnen gestehen, was ich Danny angetan habe, und ich ertrage nicht mal, mir auszumalen, wie sie mich ansehen würden, wenn sie die Wahrheit erführen.
    Es fällt mir schon schwer genug, mir vorzustellen, sie könnten die staubigen Bücher mit mir durchblättern, die ich aus den Tiefen meines Wandschranks gezerrt habe. Aber ich muss dieses Zeug lesen, um herauszufinden, was ich zu tun habe.
    Im Moment ist das Durchstöbern der alten Bücher besser, als mir Sorgen wegen allem anderen zu machen, so sehr ich den Gedanken an das, was mich erwartet, auch verabscheue. Was immer es sein mag. Wenn meine Gedanken zu lange bei dem Bild verweilen, wie Danny die Tür von Gabriels Zimmer niederwalzt – oder Gabriel niederwalzt –, hebt und senkt sich mein Magen wie ein Schiff auf rauer See. Und wenn ich mir gestatte, daran zu denken, was Mom über Ehrlichkeit