Deine Lippen, so kalt (German Edition)
und Großmutter noch zu unserem Leben gehörten. Was ich nicht verstehe, ist, warum sich das geändert hat.
»Ich weiß, bei dir geht es gerade los«, sage ich endlich. Ich halte sie noch immer im Arm, presse die Worte in die seidigen Strähnen ihres Haars. »Und das ist nichts Schlechtes. Das ist es nicht, egal, wie Mom sich verhält. Aber es gibt … Regeln.«
»Woher sollen wir die kennen, wenn Mom sie uns nicht verrät?«, protestiert Robin und stößt mich weg, damit sie mir in die Augen sehen kann. »Ich weiß, dass du Sachen tun kannst, ich habe es gesehen, und dir ist es egal, wenn Mom nicht damit einverstanden ist.«
Ich bin älter als du ist eine lahme Ausrede und alles andere, was mir einfällt, ist es auch, besonders weil sie mich auf diese Weise anstarrt: verwirrt und trotzig und ängstlich, alles auf einmal. Besonders da es sich gerade anfühlt, als hätte ich die Kräfte in meinem Inneren besser nie auf die Probe gestellt.
»Du musst erst wissen, wie du sie einsetzt, Robin«, sage ich stattdessen. Es ist schwach und ich komme mir total mies vor, denn Mom könnte es uns beiden beibringen, könnte uns erklären, was es bedeutet und wie man es kontrolliert, aber ich werde nicht diejenige sein, die ihrer kleinen Schwester rät, mit dem Experimentieren anzufangen, nicht, während mein toter Freund nur wenige Straßen entfernt ist.
»Aber Mom könnte es uns beibringen!« Sie steht auf und tritt einen meiner Chucks quer durch das Zimmer. Er schlittert in einen Haufen dreckiger Klamotten und sie funkelt ihn mit verschränkten Armen an. Sie versucht es mit Schmollen, aber ich weiß, dass es ihr schwerfällt, die Tränen zurückzuhalten. »Und ich habe mitbekommen, wie ihr deswegen gestritten habt. Keine von euch erzählt mir irgendetwas.«
»Deswegen haben wir nicht gestritten, Binny«, sage ich sanft. Und das ist beinah die Wahrheit. »Heute nicht.«
»Ist ja auch egal.« Sie wirft die Haare über die Schulter zurück und sieht mich mit zusammengepressten Lippen an. »Ich habe es so satt. Ich komme nach Hause und entdecke, dass sie ein magisches Regenbogenfeuerwerk im Garten veranstaltet, und ich soll einfach so tun, als …«
Die Tür schwingt auf und schneidet ihr das Wort ab. Mom sieht mehr oder weniger gelassen aus, aber ich weiß, dass sie die Dinge nur für Robin weichspülen will.
»Ich muss mit deiner Schwester reden, Robin.«
»Hab ich mir schon gedacht.« Robin stürmt an ihr vorbei, und an jedem anderen Tag hätte Mom sie für ihr dreistes Verhalten gerügt. »Ich bin unten, falls irgendjemand noch mehr Sachen vor mir geheim halten will.«
Ich bin auf alles gefasst, aber Mom zuckt nicht mal mit der Wimper, und wir starren uns schweigend an, während Robin die Treppe hinunterpoltert.
Kapitel neunzehn
I ch knicke ein, bevor Mom es tut. Was für eine Überraschung. Mit ihrem Blick könnte sie einen Zen-Meister niederringen.
»Habe ich jetzt Stubenarrest? Kein Fernsehen, kein Telefon? Oder was?«
»Provozier mich nicht, Wren. Dafür bin ich viel zu wütend.«
Ich zucke mit den Achseln. »Wieso provozieren? Nicht zur Schule zu gehen hat Konsequenzen, das hab ich kapiert. Ich möchte einfach nur wissen, welche es sind.«
Mom kommt ganz ins Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Sie fällt nicht laut genug zu, um es als Knallen zu bezeichnen, aber da sie es tut, ohne die Tür zu berühren, kommt die Message bei mir an.
»Glaubst du wirklich, es wäre so einfach? Du machst blau, ich bestrafe dich und damit hat sich die Sache?«
Ich richte mich kerzengrade auf und sehe sie herausfordernd an: »Wieso nicht? Was soll sonst noch sein?«
Es ist gefährlich, sie zu provozieren, besonders in diesem Moment, aber in meiner Vorstellung ist so vieles von dem hier ihre Schuld. Und obwohl mein Herz weiß, dass es eine Lüge wäre, wünsche ich mir verzweifelt jemanden, dem ich die Schuld geben kann, jemanden, den ich anbrüllen kann, jemanden, der nicht ich ist.
»Wo warst du heute, Wren?« Sie sprüht praktisch vor Zorn, die Kräfte in ihrem Innern manifestieren sich als gezackte Funken, die um sie herum aufflackern.
»Was interessiert dich das überhaupt?« Ich schleudere ihr die Worte entgegen, als könnten sie tatsächlich ihre Haut aufreißen, sie zum Bluten bringen. »Weil ich es dir nicht erzählen will? Weil ich ein Geheimnis vor dir habe? Was ist mit deinen Geheimnissen, Mom? Was ist mit all den Dingen, die du mir nicht erzählst?«
Es fühlt sich gut an, sie anzubrüllen, die Tür zu
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