Deine Schritte im Sand
KLEINES MÄDCHEN WIE VIELE ANDERE . Zumindest war sie das bis vor einer Stunde. Bis heute war die einzige Besonderheit ihr Geburtsdatum: der 29. Februar. Sie hat nur in Schaltjahren Geburtstag. Loïc findet das toll. Er ist ganz begeistert, dass seine Tochter nicht so schnell altert. Das ist der einzige Unterschied zu anderen Kindern. Abgesehen von ihrem eigenartigen Gang. Sie läuft sehr niedlich, aber ein wenig zögerlich. Ich habe das erst im letzten Sommer festgestellt. Zu gern betrachte ich die Fußspuren der Kinder im feuchten Sand. Und dort, an einem warmen Strandtag in der Bretagne, fiel mir auf, dass Thaïs seltsam geht. Ihr großer Zeh ist dabei nach außen gedreht. Aber sie läuft, und das ist doch eigentlich das Wichtigste. Vielleicht ist es nicht so schlimm, und sie hat nur Plattfüße.
Trotzdem suchen wir vorsichtshalber im Herbst einen Orthopäden auf. Er kann nichts feststellen und rät uns, ein Jahr zu warten und zu schauen, ob sich die Sache von selbst regelt. Aber ein Jahr ist für Eltern eine lange Zeit. Außerdem sind zwei Meinungen immer besser als eine. Daher melden wir uns im Kinderkrankenhaus an. Doch das Ergebnis der Untersuchung führt zu keinen neuen Erkenntnissen.
»Ihre Kleine hat keine Erkrankung, zumindest keine orthopädische«, erklärt uns der Arzt. »Trotzdem sollten Sie einen Neurologen aufsuchen. Möglicherweise gibt es einen anderen Grund.«
Wir lassen uns davon nicht beunruhigen: Wir wissen, dass Thaïs nichts Schlimmes haben kann, denn das hätten wir bemerkt.
Ende Oktober erfahren wir, dass wir nach Gaspard, der bald vier Jahre alt wird, und Thaïs Mitte Juli nächsten Jahres unser drittes Kind bekommen werden. Wir sind unglaublich glücklich. Bis dahin werden wir in eine größere Wohnung umgezogen sein. Beide lieben wir unseren Beruf – und wir lieben uns! Das Leben ist gut zu uns. Wären da nicht die kleinen, beim Laufen ungewöhnlich nach außen gedrehten Füße von Thaïs.
Einen Termin bei der Kinderneurologin bekommen wir erst zum Ende des Jahres. Noch glauben wir nicht, dass es eilt, obwohl Thaïs’ Tagesmutter ein leichtes Zittern ihrer Hände festgestellt haben will. Außerdem meint sie bemerkt zu haben, dass die Kleine in letzter Zeit seltener lächelt. Das stimmt zwar, beunruhigt uns aber nicht weiter. Wahrscheinlich spürt Thaïs schon die Anwesenheit des Babys, und dies behagt ihr nicht und verunsichert sie. Eine durchaus schlüssige Erklärung. Im Übrigen entwickelt sie sich wie alle kleinen Mädchen ihres Alters. Sie singt, sie lacht, sie spricht, sie spielt und sie freut sich ihres Lebens.
Bei dem Termin bestätigt die Neurologin unsere Beobachtungen und rät uns vorsichtshalber zu weiteren Untersuchungen. Eine Kernspintomografie zu Beginn des neuen Jahres bleibt ohne Befund. Eine gute Nachricht? Die Mediziner sehen das nicht so. Es muss eine Erklärung für Thaïs’ verdrehten Fuß geben. Die Tests werden umfangreicher und schmerzhafter. Thaïs muss eine Blutabnahme, eine Lumbalpunktion und eine Hautbiopsie über sich ergehen lassen. Die Ärzte ziehen Stoffwechselkrankheiten in Betracht, ohne dass wir genau erfahren, was das zu bedeuten hat, und wir erhalten keine wirklichen Antworten. Zumindest jetzt noch nicht. Irgendwann müssen auch Loïc und ich zur Blutentnahme. Nichts ahnend nehmen wir das auf uns. Noch wissen wir nicht, was uns erwartet. Doch wenige Tage später wird unser Leben auf den Kopf gestellt.
M ETACHROMATISCHE LEUKODYSTROPHIE , kurz MLD . Welch gefühllose Bezeichnung! Welch unaussprechliches und unerträgliches Wort. Ebenso unaussprechlich und unerträglich wie die Krankheit, für die es steht. Ein Wort, das nicht zu meiner kleinen Prinzessin passt. Sie steht vor mir, dort im Flur, klatscht in die Händchen und wartet auf ihren Geburtstagskuchen. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich kann ihr kaum in die Augen sehen. Meine kleine, so quicklebendige Tochter kann doch nicht sterben müssen! Jedenfalls nicht so bald. Jetzt noch nicht. Ich halte meine Tränen zurück, nehme Thaïs in die Arme, trage sie vor den Fernseher und setze sie vor ihre Lieblingszeichentrickserie. Als ich dabei bin, die Tür zu schließen, lächelt sie mich an.
Meine Mutter wartet im Wohnzimmer auf mich. Erst jetzt breche ich zusammen.
»Es ist schlimmer, als wir erwartet hatten. Thaïs hat eine schwere Erbkrankheit und wird bald sterben.«
Meine Mutter beginnt zu weinen. Ausgerechnet sie, die ihren Tränen sonst nie freien Lauf lässt.
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