Deine Schritte im Sand
kann ich ihr nicht sagen, weil ich mich kaum an etwas erinnern kann. Als ich das Krankenhaus verließ, drückte mir die Ärztin einen Zettel mit dem Namen der Krankheit in die Hand. Me-ta-chro-ma-tische Leu-ko-dys-tro-phie. Ich spreche die Silben einzeln aus, um das Wort fassbar zu machen und es in meine Wirklichkeit zu holen.
Ich brauche drei Anläufe, um das Wort fehlerfrei im Internet einzutippen. Doch dann zögere ich, die Links anzuklicken. Wer weiß, welche Schrecken mich erwarten.
In diesem Moment erhalte ich eine Mail von Loïc. Er hat mehr Mut bewiesen als ich und Genaueres über die Krankheit herausgefunden. Jetzt schickt er mir eine Zusammenfassung in seinen eigenen Worten. Wie ich diesen Mann liebe! Es sind seine Worte, die mir begreiflich machen, worum es sich bei der metachromatischen Leukodystrophie handelt. Ein wahrer Albtraum! Das Leiden beruht auf einem Zusammentreffen krankhafter Gene von Loïc und mir. Zwar sind wir beide gesund, aber gemeinsam können wir diese genetische Anomalie übertragen. Und genau das haben wir bei Thaïs getan. Ihre Zellen können ein bestimmtes Enzym nicht bilden. Es handelt sich um Arylsulfatase A, das für die Aufspaltung bestimmter Lipide, sogenannter Sulfatide, verantwortlich ist. Ohne dieses Enzym sammeln sich die Sulfatide in den Zellen und zerstören nach und nach das Myelin, eine Membran, welche die Nervenzellen umhüllt und Impulse weiterleitet. Die Krankheit entwickelt sich unmerklich, bis sie sich eines Tages zeigt. Ab diesem Zeitpunkt setzt eine fortschreitende Lähmung des gesamten Nervensystems ein. Der Patient verliert zunächst seine motorischen Fähigkeiten, später auch Sprache und Sehvermögen, bis schließlich lebenswichtige Funktionen beeinträchtigt werden. Der Tod tritt innerhalb von zwei bis fünf Jahren nach Ausbruch der ersten Symptome ein. Die Krankheit ist bis heute nicht therapierbar. Thaïs leidet unter der infantilen und damit schwersten Form. Sie hat nicht die geringste Aussicht auf Heilung.
Nicht die geringste Aussicht. Keine Hoffnung. Ich ringe nach Luft. Zwei bis fünf Jahre nach Ausbruch der ersten Symptome. Aber wann haben wir die ersten Symptome festgestellt? Heute? Im Sommer am Strand? Oder noch früher? Mein Kopf fühlt sich an wie eine Sanduhr, deren Inhalt in Höchstgeschwindigkeit durchrinnt.
Mit tränenblinden Augen lese ich die Mail zum zweiten Mal und vollziehe die einzelnen Etappen der Krankheit bis hin zum Tod nach. Meine gerade zweijährige Tochter wird bald nicht mehr laufen können, dann nicht mehr sprechen, nicht mehr sehen, nicht mehr hören; schließlich wird sie sich auch nicht mehr bewegen und nichts mehr verstehen können. Was bleibt ihr dann noch?
DAS TELEFON KLINGELT UNUNTERBROCHEN . Mein Vater, meine Schwestern, meine Schwiegereltern, ein paar Freunde. Jedem muss ich das Unglück verkünden und wiederholen, was ich behalten habe. Und jedes Mal höre ich darauf einen verzweifelten, bestürzten, fassungslosen Ausruf.
Die Klingel der benachbarten Schule läutet. Meine Mutter holt Gaspard ab. Thaïs’ Zeichentrickfilm ist zu Ende. Im Schloss dreht sich ein Schlüssel, Loïc kommt nach Hause. In wenigen Minuten werden wir alle zusammensitzen wie heute Morgen beim Frühstück. Wie eine ganz normale Familie. Und doch …
Wir müssen unsere Kinder einweihen. Gaspard rennt mich fast um, wie immer. Begeistert berichtet er von einem Radrennen im Hof, bei dem er gewonnen hat. Was für ein Gegensatz! Seit heute Nachmittag scheint für Loïc und mich die Zeit stillzustehen, während unser Sohn wie ein Wirbelwind durch sein Leben braust.
Ich nehme Gaspard in den Arm, und Loïc hebt Thaïs auf seinen Schoß. Er spricht als Erster und findet die richtigen Worte: »Seit heute wissen wir, warum Thaïs ein wenig merkwürdig läuft. Sie hat eine Krankheit, die dazu führt, dass ihr manche Bewegungen schwerfallen. Und andere Dinge auch.«
»Das wusste ich schon lang«, unterbricht Gaspard. »Schon als ich noch klein war, wusste ich, dass Thaïs krank ist. Und ich weiß auch, dass sie ganz bald alt ist.«
Sprachlos sehen wir ihn an. Für Gaspard ist Altsein gleichbedeutend mit Tod. Er hat den Tod bisher nur bei alten Menschen erlebt. Wieso versteht er es sofort?
»Aber wer ist schuld? Ich? Papa? Mama? Bin ich vielleicht auch krank? Oder ihr? Und was ist mit dem Baby im Bauch?«
Er stellt diese Fragen, als hätte er sie im Voraus vorbereitet.
Thaïs schenkt uns ein strahlendes Lächeln und rutscht von Loïcs Knien
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