Deine Schritte im Sand
meint der große Bruder, sein Zauber hätte vielleicht funktioniert. Und dann ist er ganz verzweifelt. Er sieht, dass seine Eltern traurig sind. Er glaubt, er wäre schuld an der Krankheit seiner Schwester und verantwortlich dafür, dass die Eltern unglücklich sind. Und dann bekommt er wieder Angst, dass man ihn nicht mehr lieb hat. Aber weißt du, Gaspard, du bist nicht schuld daran, dass Thaïs krank ist. Du kannst nichts dafür. Sieh mich an, Gaspard: Du bist nicht schuld, und du kannst nichts dafür.«
Gaspard hält die Augen gesenkt. Er sagt kein Wort. Das Blatt vor ihm ist bis zum letzten Winkel bunt ausgemalt. An manchen Stellen ist das Papier fast zerrissen.
Die Psychologin reicht ihm ein neues Blatt. »Du kannst auch nichts dafür, dass du nicht krank bist. Es ist ein großes Glück, gesund zu sein, weißt du das? Du kannst im Leben ganz viele Dinge tun und erleben. Dinge, die deine Eltern stolz und glücklich machen. Du brauchst keine Leukodystrophie, damit man sich um dich kümmert. Aber du hast ein Anrecht darauf, deinen Platz in der Familie einzufordern.«
Gaspard steht auf und drängt sich zwischen Loïc und mich. Ich spüre, wie mir wieder einmal die Tränen kommen. Unser Sohn ist erst vier Jahre alt. Er muss mit den Ereignissen um ihn herum fertigwerden. Wie soll er sein seelisches Gleichgewicht wahren? Und wie an die Zukunft glauben? Wie viele Kinder seines Alters kennen das Wort »Leukodystrophie«? Kindheit bedeutet Unschuld und Sorglosigkeit. Gaspard ist noch so klein, und doch wird er schon mit den Sorgen der Erwachsenen konfrontiert – mit Krankheit, mit Leid und bald auch mit dem Tod. Wie gern würde ich ihm das ersparen und ihn davor schützen! Ich möchte ihn für immer unserer absoluten Liebe versichern. Doch in den Augen meines kleinen Schatzes, der sich an mich schmiegt, erkenne ich wieder einmal die unglaubliche Kraft von Kindern. Gaspard hat keine Angst mehr. Er vertraut uns vollkommen. Die Psychologin hat mit ihm gesprochen, er hat es verstanden, und er hat es akzeptiert. Vielleicht müssen wir ihm noch zehn oder möglicherweise auch hundert Mal erklären, was los ist. Aber jedes Mal wird er ein wenig mehr begreifen.
Als wir gehen, wirkt Gaspard glücklich. »Mir gefällt, was die Frau gesagt hat«, lächelt er. »Sie weiß viel und ist nett. Ich würde gern noch einmal zu ihr gehen.« Sein Gemälde hält er fest in der Hand. »Ich habe mein Bild mitgenommen«, fügt er hinzu. »Ich will es behalten, ganz allein für mich.«
Natürlich, mein Liebling, es gehört dir ganz allein. Du hast darauf einen Teil deiner selbst abgebildet.
E S ÖFFNET UNS DIE AUGEN . An diesem Tag bewältigen wir eine entscheidende Etappe, ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein. Wir haben einen Termin in einem anderen Pariser Krankenhaus, wo ein auf Leukodystrophie spezialisierter Professor praktiziert. Für uns ist dieses Gespräch wichtig, weil sich unsere Kenntnisse der Krankheit auf Bruchstücke beschränken. Nachdem wir uns ein wenig gefangen haben, wollen wir mehr darüber erfahren. Schließlich müssen wir uns auf den Kampf vorbereiten.
Thaïs haben wir mitgenommen. Wir werden vom Professor, seiner Mitarbeiterin und einer Psychologin erwartet. Wir fühlen uns sofort gut aufgehoben, obwohl unser Vertrauen zu den Damen und Herren im weißen Kittel in letzter Zeit sehr gelitten hat. Auch Thaïs fühlt sich wohl. Sie lächelt die ganze Zeit und beteiligt sich auf ihre Weise am Gespräch.
Über eine Stunde lang erklärt uns der Professor alles über die seltene Krankheit und antwortet geduldig auf unsere manchmal zusammenhanglosen Zwischenfragen. Wir wollen wissen, wann sich die Phasen der Verschlimmerung einstellen, in welcher Reihenfolge sie erscheinen und wie der Tod eintritt. Ja, wir wollen alles wissen. Wer Bescheid weiß, hat nämlich weniger Angst. Trotzdem ist es dem Arzt nicht möglich, unsere Fragen so genau zu beantworten, wie wir es erwartet hatten. Die Medizin weiß noch längst nicht alles über diese Krankheit, weil sie sehr selten ist. Nur eines unter Zehntausend Kindern leidet darunter. Das ist zwar wenig, aber gleichzeitig viel zu viel. Das, was der Professor uns erklärt, untermauert im Grunde nur das, was wir bereits wissen: Thaïs wird in absehbarer Zeit nach und nach ihre Lebensfunktionen einbüßen; eine Aussicht auf Heilung besteht zum heutigen Zeitpunkt nicht.
Nach der Untersuchung ziehe ich meine kleine Prinzessin auf dem Untersuchungstisch an. Dabei kehre ich den Ärzten,
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