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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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heult, sagt ein Mann zu mir: »Was hat man davon, so viele Kinder in die Welt zu setzen, wenn man nicht damit fertigwird?« Von Mitgefühl keine Spur – vermutlich ein Herzamputierter. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht schlagen, doch ich habe nicht einmal die Kraft, ihm zu antworten. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, nicht zusammenzubrechen. Wenn der Mann wüsste …
    Als wir endlich zu Hause sind, rufe ich meine Mutter an.
    »Ich brauche dich!«, weine ich in den Hörer. Ich bitte nicht um eine Gefälligkeit, sondern ich bettele um Hilfe. SOS ! Ich kann nicht mehr. Meine Erschöpfung ist eine zusätzliche Zerreißprobe. Wenn man so kraftlos ist, wie ich es jetzt bin, kann man weder klare Gedanken fassen noch die Dinge in die Hand nehmen. Das können wir wirklich nicht brauchen. Trotzdem ist es schwierig, einzusehen, dass man von anderen Menschen abhängt, und es bedarf einer gewissen Demut zuzugeben, dass man seine Grenzen erreicht hat. Jetzt aber schlucke ich meinen Stolz hinunter, denn die Hilfe erweist sich als lebensnotwendig. Wenn wir auf uns selbst gestellt verharren, kommen wir aus dieser Situation nicht mehr heraus. Es ist das erste Mal, dass ich um Hilfe bitte, aber beileibe nicht das letzte.
    Rasch stellen wir fest, dass uns niemand im Stich lässt. Im Gegenteil. Alles regelt sich ganz schnell. Ein Netz aus gutem Willen, an dem sowohl Freunde als auch die Familie weben, bewahrt uns von diesem Augenblick an vor dem freien Fall. Ein Sicherheitsnetz, das uns in der nächsten Zeit jedes Mal auffängt – in schwierigen Augenblicken und bei den Pflichten des Alltags. Während ich dies schreibe, bin ich erneut von Dankbarkeit und tiefen Gefühlen gegenüber denjenigen erfüllt, die uns von nah und fern geholfen haben, unser Schiff durch den Sturm zu steuern, und die ein Kentern verhinderten. Menschen, die tatkräftig mitwirkten, dass wir nie den Kurs verloren.
    Von diesem Tag an muss ich mich abends nie mehr allein um Gaspard und Thaïs kümmern. Alle lösen sich ab, um uns zur Hand zu gehen: Cousins, Cousinen, Onkel, Tanten, Eltern und Freunde. Die Tage gestalten sich weniger schwierig. Ich kann wieder Atem schöpfen. Und auch Loïc ist entspannter.
    Trotz der Erleichterung, die wir verspüren, ist es natürlich nicht immer ganz einfach, die Hilfe anderer anzunehmen. Ich muss lernen, mich nicht alle zwei Minuten zu bedanken. Gerührt erkenne ich die Feinfühligkeit der Menschen, die uns Beistand leisten, ihren Respekt und die wohltuende Wirkung ihrer Anwesenheit. So viel Unterstützung – und sie dauert noch immer an.
    UNSER LEBEN WIRD HARMONISCHER . Endlich kehrt ein wenig Ruhe ein – ein Luxus, den wir fast vergessen hatten. Wir beginnen, zu entspannen, und es gelingt uns sogar, wieder einmal richtig zu schlafen. Es scheint fast alles in Ordnung zu sein … Doch die Atempause ist nur von kurzer Dauer. Thaïs’ Verfall schreitet unerbittlich voran. Anfang April kann sie nicht mehr ohne fremde Hilfe laufen. Ihre Gliedmaßen zittern. Alles erscheint uns beschwerlich. Unglücklicherweise ist es nur die Spitze des Eisbergs. Das Schlimmste ist nicht die sichtbare Veränderung, sondern das, was wir Tag für Tag schmerzlich miterleben müssen: Thaïs bekommt häufig und sehr plötzlich Nervenkrisen, und zwar vor allem im Auto. Es ist unerträglich.
    Zunächst schreiben wir diese Auftritte ihrem manchmal hitzigen Charakter zu. Wahrscheinlich hält sie es nicht aus, in ihrem Kindersitz angeschnallt zu sein. Wir versuchen alles Mögliche, um dieser teuflischen Krisen Herr zu werden: Wir schimpfen, wir tun, als merkten wir nichts, wir trösten sie, wir singen, wir lachen, wir weinen. Wir probieren vier verschiedene Kindersitze aus. Nichts wirkt. Selbst die kürzesten Fahrten werden zum Albtraum. Wir fürchten uns davor, mit dem Auto fahren zu müssen, auch Gaspard. Schon der erste Schrei lässt uns das Blut in den Adern gefrieren. Irgendwann verstehen wir schließlich, dass etwas nicht stimmt. Diese Zusammenbrüche sind zu heftig, zu häufig, zu lang und zu anstrengend, um einfach nur ein Zeichen ihres Unmuts zu sein. Sie wirken fast unmenschlich.
    Schließlich wenden wir uns erneut an das auf Leukodystrophie spezialisierte Krankenhaus. Und dort erfahren wir von einem weiteren Symptom, von dem wir bisher nichts gewusst hatten: den heftigen Schmerzen. Nein, es ist nicht so, dass Thaïs uns Ärger machen will. Sie leidet, und zwar sehr. Wieder einmal müssen wir einen schrecklichen Begriff lernen: neuropathische

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