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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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Loïc und der Psychologin den Rücken zu. Ich widme mich ausschließlich meiner Tochter und spreche so zu ihr, wie mein Muttergefühl es mir gerade eingibt.
    »Hast du verstanden, was der Arzt gesagt hat, Thaïs? Er hat uns erklärt, dass du bald nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen, nicht mehr sehen und dich nicht mehr bewegen kannst. Das ist nicht schön, und wir sind alle sehr traurig. Aber du weißt trotzdem ganz genau, dass wir dich immer sehr, sehr lieb haben werden. Wir werden alles tun, um dein Leben so glücklich wie möglich zu machen. Ich verspreche dir, mein Liebling – du sollst ein schönes Leben haben. Vielleicht nicht so wie andere kleine Mädchen oder wie Gaspard, aber es wird ein Leben werden, auf das du stolz sein kannst. Und in dem du niemals auf Liebe verzichten musst. Weder auf unsere noch auf die von vielen anderen.«
    Von diesem Augenblick an ist alles klar. Glasklar. Wir werden den Maßstab verändern, an dem ein Leben gemessen wird. Ehe wir von der Krankheit wussten, hatten wir tausend Wünsche und Pläne für Thaïs. Wünsche und Pläne für ein ganzes Leben. Ein Leben, von dem wir dachten, dass es in einem angemessenen Alter ohne uns enden würde. Jetzt aber müssen wir die Zeitachse verkürzen, ohne das, was ein menschliches Dasein lebenswert macht, zu verändern: in Liebe aufzuwachsen. Oh ja, Thaïs wird lernen, was Liebe ist. Genau wie Gaspard und alle anderen Kinder, nur eben in kürzerer Zeit. Es mag richtig sein, dass Thaïs’ Lebensspanne begrenzter ist, doch dafür wird sie angefüllter sein. Intensiver.
    Das Schwarzweiß in unseren Herzen beginnt sich wieder um Zwischentöne zu bereichern.
    AUCH WENN ES UNS ERSTAUNLICH VORKOMMT , geht unser Leben fast normal weiter. Ende März ziehen wir um. Alles läuft wie geplant. In unserer neuen Wohnung fühlen wir uns sehr wohl. Wir haben jetzt mehr Platz und genießen den zusätzlichen Raum. Gaspard und Thaïs könnten jeder ein eigenes Zimmer haben, doch sie ziehen es vor, zusammenzubleiben. Es rührt uns, wie gut die beiden sich verstehen. Zwei kleine Komplizen, die fest zusammenhalten. Es rührt uns, und gleichzeitig schmerzt es uns zutiefst … Schluss damit! Die Gegenwart zählt. Einzig die Gegenwart.
    Wir sind nicht sehr weit fortgezogen – lediglich fünf Metrostationen entfernt. Als wir uns für die neue Wohnung entschieden hatten, wussten wir noch nichts von Thaïs’ Krankheit. Wir hatten beschlossen, Gaspard in seiner Vorschule und Thaïs bei ihrer Tagesmutter zu lassen, anstatt Betreuungsstellen in der Nähe unserer neuen Wohnung zu suchen. Wir fürchteten, dass den Kindern die Umstellung schwerfallen würde. Überdies wäre ein Wechsel mitten im Jahr nicht ganz einfach gewesen. Hinzu kam, dass sich sowohl die Vorschule als auch die Tagesmutter in der Nähe meines Büros befanden. Es sah alles so aus, als wenn es nicht allzu umständlich werden würde.
    Aber weit gefehlt! Die Situation gestaltet sich mehr als problematisch. Jeden Morgen nehmen wir zu viert die Metro. Thaïs und ich steigen zwei Stationen vor Loïc und Gaspard aus. Ich trage den Buggy nach oben zur Straße. Bis zu Thaïs’ Tagesmutter ist es noch eine Viertelstunde strammer Fußmarsch. Weiter geht es zehn Minuten in die entgegengesetzte Richtung zu meinem Büro. Dann beginnt mein Arbeitstag. Abends muss ich rennen, um Thaïs abzuholen. Von der Tagesmutter aus eilen wir weiter zu Gaspards Vorschule, immer in der Hoffnung, nicht zu spät zu kommen. Anschließend sausen wir zur Krankengymnastik, wo Thaïs’ motorische Störungen behandelt werden. Schließlich fahren wir zu dritt mit der Metro nach Hause – genau genommen zu viert, weil sich in solchen Augenblicken mein ungeborenes Baby gern sehr spürbar meldet.
    Nach mehr als einer Stunde Hast fühle ich mich zu Hause kaum noch in der Lage, mich meinen Kindern zu widmen, die nach Süßigkeiten, einer Geschichte, einem Spiel, einem Bad, einem Abendessen und jeder Menge Zärtlichkeit verlangen. Ich sehne mich nur noch danach, mich auf die Couch fallen zu lassen und mich nie mehr von der Stelle zu bewegen. Loïc tut sein Möglichstes, um früh von der Arbeit zu kommen, sich der Kinder anzunehmen, mir Hektik zu ersparen und mir zu helfen. Aber auch ihm fehlt es an Zeit und Energie. Unsere Kräfte erlahmen.
    Eines Tages, als ich schwitzend und keuchend Gaspard in der Metro ermahne, nicht ständig mit den Klappsitzen zu spielen, während ich gleichzeitig beunruhigt meine Kontraktionen zähle und Thaïs lautstark

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