Deine Schritte im Sand
Ihr Kopf ist zur Tür gedreht, ihre Augen sind geschlossen. Sie schläft friedlich. Ich ziehe einen Stuhl heran, setze mich neben sie und greife nach ihrer kleinen, warmen, rundlichen Hand. Eingehüllt in die Dunkelheit, betrachte ich meine kleine Tochter. Ich bewege mich nicht, und ich spreche nicht. Ich bin einfach nur da. Sanft schreitet die Nacht fort.
Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und erkennen die Einzelheiten des Zimmers: die Geräte mit ihren Anzeigen, die Plüschtiere und Puppen, das bestickte Betttuch, die an den Wänden aufgehängten Kinderzeichnungen. Gerührt lasse ich Thaïs’ Welt auf mich wirken. Als mein Blick wieder an ihr hängenbleibt, sehe ich, dass ihre Augen weit geöffnet sind, obwohl ich dachte, sie schliefe. Unter der brutalen Intensität ihres Blickes fühle ich mich unbehaglich. Thaïs kann nicht mehr sehen, doch ihre blinden Augen scheinen mich plötzlich zu durchbohren und sich einen Weg mitten in mein Herz zu bahnen.
Ich brauche Mut, diesem Blick standzuhalten und mich ihm zu überlassen. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Ich weiß nicht einmal, ob mein Herz noch schlägt. Nichts anderes existiert mehr. Nur diese Ebenholzaugen. Und dort, in der tiefsten, dunkelsten Winternacht, gebannt von den Augen meiner Tochter, ihre Hand in der meinen und mit vereinten Herzen und Seelen, begreife ich. Endlich.
DIE WIRKUNG IST WIE DIE EINER BLENDGRANATE. Bewegungslos und ohne Worte schenkt mir Thaïs ein Geheimnis – das schönste und begehrenswerteste Geheimnis überhaupt: die Liebe.
Eines Tages, es war im Behandlungszimmer einer Klinik, versprach ich meiner kleinen, kranken Tochter, ihr alles weiterzugeben, was ich selbst über dieses weltbewegende Gefühl wusste. Eineinhalb Jahre lang habe ich mich an mein Versprechen gehalten. Während der ganzen Zeit jedoch wurde ich vom Ausmaß meiner Aufgabe so sehr in Anspruch genommen, dass ich die Wirklichkeit nicht wahrnahm. Ich begriff nicht, dass es Thaïs war, die mich die wahre Liebe lehrte. Trotz der vielen Monate an ihrer Seite habe ich es nicht verstanden. Wenn man es recht bedenkt, weiß ich nicht wirklich viel über die Liebe. Über die wahre Liebe.
Aber woher weiß sie es? Wie ist das möglich? Thaïs muss auf fast alles verzichten. Sie kann sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht hören, nicht singen, nicht lachen, nicht sehen. Sie kann noch nicht einmal weinen. Aber sie liebt. Sie tut nichts anderes, und sie tut es mit ganzer Kraft. Trotz ihrer Verletzungen, ihrer Gebrechen und ihrer Ohnmacht.
Thaïs’ Liebe drängt sich nicht auf, sondern liegt offen zutage. Sie präsentiert sich so, wie sie ist: verletzlich und zerbrechlich. Ohne Panzerung, ohne Rüstung und ohne Schutzmauer. Aber auch ohne Angst. Wer sie nur aus der Entfernung wahrnimmt, macht sich vielleicht darüber lustig, verachtet sie und lehnt ihre Zerbrechlichkeit ab. Doch diejenigen, die sich Thaïs nähern, die sich zu ihr hinunterbeugen und bereit sind, sie zu begleiten, denen ergeht es wie mir: Sie erkennen, dass diese Verletzlichkeit nur nach einer einzigen Sache ruft – nach Liebe.
Vor etwa zwei Jahren, als ich erfuhr, welche Schäden die Krankheit hervorrufen würde, fragte ich mich verzweifelt, was ihr überhaupt noch bleiben würde. Die Antwort lautet: Liebe. Ihr bleibt die Liebe. Die Liebe, die man bekommt. Und die Liebe, die man selbst schenkt.
Nur die Liebe hat die Fähigkeit, Strömungen umzukehren und Schwäche in Kraft zu verwandeln. Thaïs, die ihrer Sinne beraubt und körperlich abhängig ist, kann ohne Hilfe von außen so gut wie nichts. Sie könnte vieles fordern. Und doch erwartet sie von uns nichts als das, was wir ihr von uns aus schenken. Mehr nicht.
Die meisten Menschen glauben, dass ein eingeschränktes Leben voller Leid nur schwer zu akzeptieren sei. Das wäre auch sicher richtig, gäbe es die Liebe nicht. Denn unerträglich ist nur die lieblose Leere. Wenn man aber liebt und wiedergeliebt wird, kann man alles ertragen. Auch Schmerzen und Leid.
Ja, das Leid … Wir kennen diesen ungebetenen Gast in unserem Leben nur allzu gut. Wir haben ihn in all seinen Ausprägungen kennengelernt. In allen, außer vielleicht einer: Wir sind nie verzweifelt. Nie sind uns die wahren Gefühle abhandengekommen. In dieser verstörenden Nacht wird mir klar, dass ich nie durch Thaïs gelitten habe. Niemals. Zusammen mit ihr – ja, sogar oft. Viel zu oft. Eigentlich immer. Aber immer mit ihr gemeinsam.
IN DIESER NACHT WAGE ICH, ES
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