Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
sie alle funktionierten, und ich merkte nicht, dass ich es nicht tat. »Du bist wie Marilyn Monroe«, sagt Kenny zu mir, und ich nehme es als Kompliment und bedanke mich kichernd. »Moment mal«, fügt er hinzu, »du bist wie ein Kätzchen mit höllisch scharfen Krallen. Die Männer sind hinter dir her, weil du sexy und kaputt bist, und wenn es ihnen mit dir zu anstrengend wird, können sie sagen: ›Hey, dieses Spielzeug ist ja kaputt!‹, und werfen dich ohne Gewissensbisse weg.«
Diese Bemerkung macht mich trauriger als alles, was ich je gehört habe.
Abends gehe ich in ein Soul-Food-Restaurant namens Pink Tea Cup, um die Stunden, in denen ich wach bin, zu füllen und damit ich mich nicht so einsam fühle. Ich esse Pekan-Pancakes. Rund um die Uhr frühstücken zu können, gibt mir irgendwie Hoffnung. Ein Neubeginn um Mitternacht. Die Jukebox dort ist erstaunlich gut bestückt, und ich lerne, welche die längsten Songs sind, die ich für meinen Vierteldollar kriegen kann. Es gibt Roy Ayers’
Everybody Loves the Sunshine
, Donny Hathaways Coverversion von
Jealous Guy
und
Living for the City
von Stevie Wonder. Es ist ein eisiger Februar. Der Koch und die Kellnerin vom Pink Tea Cup, die Nachtschicht haben, lassen mich bei Boggle mitspielen.
Ich glaube, die Tatsache, dass die Straßen in New York nummeriert sind, hält mich für eine geraume Zeit am Leben. Einfach nur gehen. Sich einfach nur bewegen. Obwohl ich mich viel ritze, ist immer auch ein Gefühl von Schmerz und Leistung da, und natürlich auch ein Hochgefühl, wenn ich über den Asphalt stapfe. Von der 11th zur 86th Street, von der 1st zur 10th Avenue.
Ich höre mir
The River
von Bruce Springsteen an, immer und immer wieder. Ich denke an Ophelia. Bei jedem Schritt spüre ich ihr schweres, tropfnasses Kleid.
Manie ist ein Fluss, der sich einem Wasserfall nähert, Depression ein stehendes Gewässer. Tote Dinge schwimmen darauf herum, und das Wasser ist so blauschwarz wie deine Lippen. Du verhältst dich ganz ruhig, weil das, was dein Bein streift, dir solche Angst macht (obwohl da vielleicht gar nichts ist, aber dein Verstand hat sich schon verabschiedet). Deshalb liegt man nur im Bett. (In der Mitte, mit meiner dunkelblauen Bettwäsche. Die silbrigen Vorhänge nicken der Manie aufmunternd zu. Früher gefielen sie mir mal.) Meine Büstenhalter hängen hinter meinem Bett an der Wand, gekreuzigt für meine Sünden. Ich besitze sechsunddreißig BH s. Ich habe sie gezählt. Ich halte mir die Hände vor die Brüste, in den Tagen, Wochen und Monaten, die ich im Bett verbringe, als könnte sie mir jemand stehlen.
Obwohl ich nur ein kleines Apartment habe (allerdings ist in der Mitte eine durchgezogene Wand, um die Illusion von zwei Zimmern vorzutäuschen), nehme ich mir eine Mitbewohnerin. Ich kann mich echt nicht mehr erinnern, warum ich das tat. Vielleicht weil ich weiß, dass ich unter Aufsicht gehöre. Doch sie ist nur äußerst selten da, weil ihr Leben so voll ist. Sie ist ständig damit beschäftigt, ihre Freiheit zu genießen.
Sie ist ebenfalls eine Engländerin in New York, hat eine sehr individuelle Frisur (weißblond gefärbte Haare, die sie auf dem Kopf zusammenbindet) und einen Lieblingsspruch: »Love it!« Ihr Kram ist im ganzen Apartment verstreut: unglaublich teure Schuhe, eine coole, pinkfarbene, aufblasbare Gitarre und Handtaschen, um die selbst Mary Poppins sie beneiden würde.
Ich bin sehr, sehr dünn. Als ich merke, dass ich keine Kurven mehr kaschieren muss, trage ich türkisfarbene Leggings im Leopardenprint zu einem Pyjamaoberteil und knöchelhohe Converse, oder Leggings mit Overkneestrümpfen zu abgeschnittenen Jeans mit Ballettschuhen, die mit Smiths-Lyrics bekritzelt sind. Die Leute sprechen mich auf der Straße an. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich eine
Fashionista
.
Dann passieren ein paar Dinge hintereinander. Skateboard-Peter ist nicht da, als es eine Wasserwanze zu killen gibt. Als ich auf der Suche nach ihm durch die Straßen renne, treffe ich auf einen Schriftsteller, den ich sehr bewundere und der mein Buch hoch gelobt hat. »Hey, ich bin Emma Forrest.«
»Oh, hey, Emma!«
»Danke für die tolle Kritik.«
»Ich mochte das Buch wirklich.«
Ich nehme allen Mut zusammen. »Kommen Sie bitte mit zu mir hoch und killen eine Wasserwanze für mich?«
Er beäugt mich, als sei ich selbst eine Wasserwanze. »Nein.«
»Nein?«
»
Nein
. Ich will nicht in Ihr Leben hineingezogen werden.«
Eine Freundin verabredet sich mit
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