Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
vorauswerfen« noch nicht.
Und ausgerechnet an diesem sakrosankten Familientreffpunkt drehte ich eines Tages den Messingschlüssel im Türschloss um und kletterte auf einen Stuhl, um an das Arzneischränkchen heranzukommen, in dem Mum ihr Valium aufbewahrte. Noch auf dem Stuhl stehend, schüttete ich die Tabletten in meine hohle Hand und wog sie prüfend ab, als könnten sie mir irgendwelche Lebensweisheiten vermitteln. Doch weil ich sie nicht sprechen hörte, legte ich mir sechs der Tabletten auf die Zunge, ließ sie dort liegen und wartete auf ihre Botschaft. Ich schluckte sie nicht, wartete aber ein paar Minuten lang darauf zu sterben, zumindest halbwegs. Ich bin nicht gestorben. Ich spuckte sie aus und ließ sie wieder ins Fläschchen fallen. Dann schraubte ich den Deckel wieder zu, drehte leise den Schlüssel zurück und ging zum Abendessen nach unten.
Frauen nehmen fast immer Tabletten. Frauen suchen das sanfte Wegsickern, wie bei klassischem Soul, wenn die Lautstärke einer Otis-Redding-Platte langsam heruntergedreht wird, bis er ganz fort ist. Was geschieht nach dem Ausblenden? Was machen die Musiker in diesem Raum?
Holt mich dorthin. Holt mich dorthin.
5. Kapitel
Manhattan erdrückt mich, als ich nach dem Film
Ghost Dog
nach Hause gehe, Hand in Hand mit dem Gedanken an Selbstmord. Der Selbstmordgedanke ist maskuline Energie, mit manikürten Nägeln wie ein Mafioso. Er trägt ein warmes Jackett, das er mir um die Schultern legt, denn er selbst spürt die Kälte nicht.
Erinnern Sie sich an die Szene in
GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia
, in der Robert De Niro mehrmals zu Lorraine Bracco sagt: »Dort in der Lagerhalle ist ein Kleid für dich. Ja, dort, geh schon, geh einfach hinein!« Und sie weiß, dass sie umgebracht werden soll, und geht nicht hinein. Der Selbstmordgedanke lockt einen mit schönen Worten hinein, und obwohl du weißt, dass es nur Süßholzgeraspel ist und was dich erwartet, willst du unbedingt in diesen Raum.
Der Selbstmordgedanke, ganz Gentleman, hält mir die Tür auf. In der Wärme meines Apartments nehmen wir meinen Rasierer und beginnen gemeinsam mit dem Ritzen, so, als würden wir in einer Bar zusammen etwas trinken.
L’chaim
– »Auf das Leben!« Ich schaue noch einmal hin und plötzlich ist SMG ein Manager, der wichtige Dokumente mit mir durchgeht, während ich mir mit dem Rasierstift das Blut aus der Haut hole. »Unterschreib hier. Und hier. Und dann hier noch einmal!«
Der Selbstmordgedanke ist ein großer Schmeichler. »Du bist sehr hübsch«, sagt er, und ich glaube ihm errötend, denn das Licht dieses Gedankens lässt all meine kleinen Makel verblassen. Später wird GH sagen: »Du bist klasse im Bett und wunderschön, aber solche Dinge sind dir ja egal«, und innerlich lache und lache ich, weil ich merke, wie unverfroren der Selbstmordgedanke an meine Eitelkeit appelliert.
Ich lege mich aufs Bett. Die breite Matratze ist mit Papierkram übersät, mit Büchern, Zeitungen, einer Wasserflasche, Tabletten und Pillen. Tabletten, die schon bereitliegen, nur warten, wieder einmal. Die Tabletten fangen an zu wirken. Wie angenehm, denke ich, wie der Moment, wenn man in eine warme Wanne steigt, oder der Moment, wenn ein Mann zum ersten Mal in dich hineingleitet.
Und dann kommt der Gezeitenwechsel, und wenn sich das Wasser zurückzieht, sieht man auf dem Meeresboden Dinge liegen, die man dort nie vermutet hätte: rostige Büchsen, leere Colaflaschen, in Plastik erstickte Seevögel. Und plötzlich ist es nicht mehr angenehm.
Irgendwo dazwischen ist eine Glocke, vielleicht ein Kind, das Triangel spielt. Ich greife danach, damit das Bimmeln aufhört. Es ist das Telefon. »Hallo«, sage ich aus dem Ozean.
Es ist meine Mutter. »Emma? Emma? EMMA ! Was hast du getan?«
Wie kann sie einen Krankenwagen rufen? Das braucht sie nicht. Sie hört meine Mitbewohnerin nach Hause kommen. Ich habe das Telefon fallen lassen und mich in den Koffer verkrochen, um dort ohnmächtig zu werden. Mum ist noch am Telefon und hört alles. Sie hört den Aufschrei meiner Mitbewohnerin. Sie hört sie mit dem Handy die 911 anrufen. Sie hört das Eintreffen der Sanitäter. Sie bleibt in der Leitung. Sie geht nicht weg. Meine Mum ist bei mir, trotz allem.
Schließlich legt sie auf, um ein Flugticket zu buchen, damit sie noch am gleichen Abend bei mir sein kann. Sie fliegt durch die Nacht, genau wie ich auch, und am nächsten Morgen sind wir zusammen in einem Zimmer im Krankenhaus. Mühsam öffne ich
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