Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
sterben würde. Und auch, weil ich immer noch nicht weiß, was genau geschehen ist. Er war immer für mich da. Und dann verschwand er und hinterließ nur diese mysteriöse Ansage auf dem AB . Ich brachte es nicht über mich, Barbara mit meinen Fragen zu belästigen. Mein neuer Facebook-Kontakt rät mir, zu Dorothy Rick zu gehen, einer Kollegin von Dr. R.
Dorothy gibt mir einen Termin, und ich fliege wieder einmal nach New York. Ihr Büro ist sehr groß und schön eingerichtet. Sie selbst ist auch schön und winzig. Sie sieht wie ein altkluges kleines Mädchen aus, als sie auf ihrem Ledersessel sitzt. Und ich frage sie, warum, warum hat er mich nicht vorgewarnt?
»Weil er sich selbst weigerte, es zu akzeptieren. Ich habe ihn eine Woche vor seinem Tod im Krankenhaus besucht ...«
»In welchem Krankenhaus?«
»Im Columbia.« Sie reicht mir vorbeugend ein Taschentuch. »Er hat sich aufgesetzt, war aber sehr schwach. Er hatte eine schlimme Zeit hinter sich, und Barbara brauchte eine Pause, aber niemand dachte, dass das schon das Ende wäre.«
Ich zerknülle das Taschentuch, ohne es zu benutzen.
»Wann genau bekam er die Diagnose?«
»Im August 2007. Er rief mich an und sagte: ›Es gibt eine Neuigkeit, leider keine gute, aber ich werd’s schon schaffen.‹ Es war Stadium 3.«
»Bedeutet?«
»In beiden Lungen.«
»Hat er geraucht?«
»Nein. Er ging davon aus, dass er operiert werden könnte, sobald der Krebs durch Chemotherapie und Bestrahlungen geschrumpft wäre. Und das war auch so.«
»Wann?«
»Im Februar. Die Ärzte waren sehr zuversichtlich. Sie sagten, die Chemo hätte geholfen, und nach der OP ging es ihm tatsächlich sehr gut. Er war richtig guter Dinge.«
Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Ich bin froh. Ich will alles sehen.
»Einen Monat nach der OP wurde eine CT gemacht, und dabei wurde etwas entdeckt. Das war schlecht. Doch er ist dann zu einem der Top-Onkologen gegangen, der ihm sagte, sie könnten es mit einer neuen medizinischen Leitlinie versuchen.«
»Was genau?«
»Eine atypische Behandlungsmethode. Dafür musste er aber ins Krankenhaus. Und dort bekam er eine Lungenentzündung. Er hat aber noch praktiziert bis zwei Wochen, bevor er ins Krankenhaus ging.«
Himmel, das war damals, als ich die ganze Sitzung damit verplempert habe, ihm von dem blöden Hewz Van und den verdammten Abba-Zaba-Riegeln zu erzählen. Während er kaum noch Luft bekam! Und ich habe nur Blödsinn gequasselt, weil ich ihn an jenem Tag gar nicht wirklich brauchte!
»Emma, wir haben geredet, und er klang geschwächt und sehr krank, aber immer noch voller Zuversicht. Es traf ja auch alles zu. Er hat mich ausdrücklich gebeten, den Patienten, die wir beide hatten, nichts zu sagen.«
»Also starb er an ...?«
»An der Lungenentzündung. Barbara sagte, niemand hätte damit gerechnet, dass er stirbt. Seine Zellenart war heilbar.« Sie seufzt. »Er dachte nicht, dass er sterben würde, insofern war er also ehrlich. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Er hat Sie nicht hintergangen.«
Da erst muss ich weinen. Ich streiche das Taschentuch glatt und schniefe hinein. Sie wartet, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe und sie fragen kann, wie sie Dr. Rs Therapiemethode genau definieren würde.
»Es ging ihm um ›harm reduction‹, also Schadensminimierung. Das ist eine neue Denkweise der letzten fünf bis zehn Jahre, und es geht darum, Menschen dazu zu bringen, sich von ihren Traumata zu erholen. Bei der traditionellen Psychiatrie geht es um ›tabula rasa‹, was leerer Bildschirm bedeutet. Doch die Psychiatrie hat sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt. Wir fingen alle zur gleichen Zeit an zu lernen und zu praktizieren und merkten, dass diese Mauer gefallen war. Menschlichkeit ist der zentrale Punkt. Und wie Dr. R bewiesen hat, ist ein Mensch am ehesten in seiner Kraft, wenn er zutiefst human ist.«
Dann bittet sie mich, ein bisschen von mir zu erzählen, von meinen Problemen. Ich erzähle also, zum etwa fünfzigsten Mal, die Geschichte von GH und seiner 180-Grad-Drehung, und dass ich es mir einfach nicht erklären kann.
»Sie werden keine Erklärung finden. Denn es gibt keine. Die Antwort sind Sie selbst. Und diese Antwort lautet, dass Sie sich nicht mehr selbst verletzen, was immer auch passiert.«
Sie ist gut, sehr gut. Ihre Denkweise erinnert mich in vielem an
ihn
.
»Was würde Dr. R sagen?«, frage ich sie.
Sie grinst.
»Moment, ich muss mich zuerst in ihn hineinversetzen, sozusagen den
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