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Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deuticke
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keine obdachlosen Menschen hier, nicht mal Hunde. Nur obdachlose Katzen.
    Bald beginnt es gnadenlos zu schneien. Am Freitag zünde ich in meinem kleinen Hotelzimmer Sabbat-Kerzen an. Die Türkei ist nach wie vor das einzig wirklich gemäßigte islamische Land, und darauf sind sie ungeheuer stolz. Nach meiner Irrationalität der letzten Monate ist es eine Freude, an einem Ort zu sein, wo die Leute verfassungsrechtlich zur Vernunft
verpflichtet
sind, auch wenn die Länder um sie herum halb verrückt sind.
    Ich besichtige die Blaue Moschee, die letzte große Moschee aus der klassischen Periode, die byzantinische Elemente mit traditioneller osmanischer Architektur verbindet und deren Innenraum mit einer Vielzahl blauer Kacheln ausgekleidet ist. Meine Haare sind inzwischen sehr dunkel und sehr lang, und während mir das Schneegestöber in Spiralen um den Kopf wirbelt, verleiht die Moschee meiner Haut eine bläuliche Färbung. Ich betrachte mich im Taschenspiegel – Eitelkeit im langen Schatten religiöser Andacht. Der kleine Spiegel erzählt die Geschichte eines Mädchens, das unter den Wellen lebt.
    Mit meinem Jetlag gönne ich mir um sechs Uhr früh ein Frühstück im Four Seasons. Ich esse Gebäckstückchen und lese die türkische Zeitung. Beim Hinausgehen stibitze ich noch etwas für die Katzen. Ich stehle nicht, schließlich habe ich fünfzig Dollar fürs Büffet bezahlt, aber ich genieße das Gefühl, es als kleinen Verstoß zu sehen. Lachs, Würstchen und Schinken in Hülle und Fülle, für die Straßenkatzen, denen es vermutlich egal ist, ob es »halal« ist oder nicht.
    Der Morgen bricht gerade an, als ich zum Hamam Cemberlitas gehe, dem ältesten türkischen Bad der Stadt. Er wurde 1584 erbaut, und alles Licht kommt von den Hunderten Sternen, die in das Kuppeldach geschnitzt wurden. Ich höre den Ruf zum Gebet von der Blauen Moschee, während ich nackt im kochend heißen Dampf liege. Außer mir ist niemand da.
    Jede Besucherin bekommt eine Frau zugeteilt, die sie abschrubbt und abwäscht, die schmerzenden Gliedmaßen knetet und massiert. Die Frauen, die einen bearbeiten, sind ebenfalls nackt. Meine hat riesige Hängebrüste und die blassen, grauen Augen, die ich in New York an Frauen aus der Dominikanischen Republik schon gesehen habe. Während wir uns mit Händen und Füßen zu verständigen versuchen, seift sie mir die Haare ein und sagt: »Baby Girl.«
    Ich weiß nicht, ob sie sagen will, ich
sähe
wie ein Baby Girl aus, oder ob sie fragt, ob ich ein Baby Girl habe.
    Sie grinst. Ihr fehlt ein Zahn. »Baby Girl.«
    Sie wiederholt es strahlend: »Baby Girl?«
    Einen schrecklichen Moment lang glaube ich, sie habe nach Pearl gefragt. Eingehüllt in Dampfschwaden, schießen mir Tränen in die Augen. Ich bin froh, dass sie voller Seife sind.
    Am Ausgang verkaufen sie selbstgemachte Seifen mit einem Anhänger, der einen vor dem bösen Blick schützen soll. Ich kaufe mir einen und frage mich, wie ich ihn in meinem Inneren aufhängen soll.
    Im 19. Jahrhundert schrieb der französische Abenteurer Pierre Loti in seinem Roman
Aziyadé
über ein Mädchen in einem Harem von Istanbul, in das er sich verliebt hatte. Er schrieb, er hätte seine Seelenverwandte gefunden. Er wollte ihr helfen, aus dem Harem zu fliehen, um mit ihr zu leben. Doch dann, eines Morgens, segelte sein Schiff heimwärts, mit ihm an Bord. Als er viele Jahre später zurückkehrte, erfuhr er, dass Aziyadé aus enttäuschter Liebe gestorben war. Im Buch steht nicht, sie habe sich umgebracht. Da steht, sie sei aus Liebe gestorben. Ich schätze, sie hat einfach aufgehört zu essen. Aber vielleicht ist auch ihr Herz unter dem mit Juwelen besetzten Schleier zerbrochen.
    »Gehörst du mir?«
    Ja.
    »Gehörst du mir?«
    Ja.
    »Gehörst du mir?«
    Nein.
    »Nein?«
    Nein. Ich habe dir gern gehört. Aber jetzt gehöre ich
mir
, was im Grunde genommen immer der Fall war.
    Von Schneestürmen gepeitscht, stapfe ich mit eingezogenem Kopf zum Topkapi-Palast, der von 1465 bis 1863 Wohn- und Regierungssitz der osmanischen Sultane war. Er besteht aus einem Komplex von vier großen Innenhöfen und vielen verwinkelten kleineren Gebäuden, und es gibt Hunderte von Räumen und Schlafgemächern, in denen die heiligsten Reliquien der muslimischen Welt untergebracht sind, und da ist natürlich auch der gut erhaltene Harem.
    In der ehemaligen Sultansresidenz gibt es eine Ausstellung mit heiligen Reliquien. Dort kann man das Kochgeschirr des Propheten Abraham bestaunen, den Turban

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