Delhi Love Story
altmodischer Eiswagen mit einem schläfrigen Verkäufer.
»Erdbeere?«, fragt Keds.
»Das weißt du noch?«
Er kommt mit zwei schmalen Eiswaffeln zurück und reicht mir eine. Sie scheint in seiner großen Hand zu
verschwinden. Das Eis thront weich und cremig auf der kleinen Waffel und glänzt vielversprechend. Ich probiere. »Mmmm«, sage ich, »himmlisch.«
»Ich wusste, es würde dir schmecken.«
Unwillkürlich muss ich lächeln. Manche Dinge ändern sich zum Glück nie.
Auf dem schmalen Pfad gehen wir zurück. Die Sonne steht jetzt direkt über uns, brennt gnadenlos, aber das stört mich nicht besonders. Vielleicht liegt das an dem leckeren Eis, denke ich. Oder an den Spatzen, die aus den Pfützen unter den Lüftungen der Klimaanlagen trinken. Oder an den leuchtend orangenfarbenen Blüten auf den Bäumen gegenüber, deren Äste sich sanft in der heißen Luft wiegen. Es sind mindestens 40 Grad. Wir bewegen uns im Schatten einer vorbeiziehenden Wolke, und ich spüre, wie ich ruhiger werde. Der Geruch von Dhal strömt aus einem der Fenster, ich blicke nach oben und fühle mich seltsam willkommen. Auch der Weg, auf dem wir gehen, scheint mich friedlich zu empfangen, als sei ich ihn schon viele Male gegangen, obwohl es das erste Mal ist. Ich denke über diese seltsamen Empfindungen nach, als Keds mich fragt, wie mir die Stadt gefällt. Ich finde die Frage schwierig und irgendwie auch lästig. Meine Zufriedenheit verfliegt und mit einem Schlag bin ich wieder in der Realität.
»Es ist eben eine Stadt«, antworte ich.
»Nein, im Ernst, wie findest du es, dass ihr nach Indien gezogen seid?«
»Ma ist begeistert.«
»Und du? Bist du begeistert?«
Das ist unwichtig.
»Sicher wirst du Minnesota vermissen.«
Minnesota. Ich denke an Jaime und Jess beim Basketballspielen, an ihre Auffahrt, die mal wieder neu gepflastert werden müsste. Ich denke an den Garten und das frische Grün, an die majestätischen Hostas.
Ich denke an die Johnsons, die vor zwei Tagen in unser Haus gezogen sind.
»Sie machen einen guten Eindruck«, hatte Jaime berichtet. »Ihr Sohn Connor ist im zweiten Jahr an der Uni. Sehr süß. Jess hat sich schon ein bisschen in ihn verliebt. «
Ich hatte so ruhig wie möglich gefragt, ob die Johnsons sich um unseren Garten kümmern.
Jaime hatte kurz innegehalten. »Sie haben Landschaftsgärtner kommen lassen. Ich glaube, sie wollen einen Pool bauen. Jess kann es kaum abwarten, mit Connor im Pool zu schwimmen. Morgen gehen wir Bikinis kaufen!«
Ich hatte es irgendwie geschafft zu lachen. Ich war cool geblieben. Aber jetzt, in dieser Hitze war das nicht so leicht, nicht wenn Keds mir lauter Fragen stellte.
»Ani?«
»Was denn?«
»Es ist schwer, oder?«
Ich kann die Tränen kaum mehr zurückhalten.
»Onkel Suj war mein Held, wusstest du das?«
Ich blinzele; die Tränen laufen meine Wangen herunter.
»Wenn du willst, halte ich die Klappe.«
Ich schüttele den Kopf und setze mich auf den Gehweg. Obwohl er im Schatten eines Gebäudes liegt, sind die Steine glühend heiß.
»Ich habe mir oft vorgestellt, er wäre mein Vater und unsere Eltern würden uns eines Tages austauschen.«
Ich starre auf den schmutzigen Boden. Ich merke, dass Keds sich neben mich gesetzt hat und in die gleiche Richtung blickt.
»Ist das nicht schrecklich? Bitte erzähle es Papa nicht. Aber Onkel Suj war echt der Beste.«
Ich spüre, wie Keds Hand meine Wange berührt. Seine Finger bewegen sich so sanft, dass es schmerzt.
»Es ist okay«, sage ich. »Ich muss nicht mehr weinen.«
»Es ist auch okay, wenn du noch weinst.«
Seine Hand ist so warm und beruhigend, dass ich nicht anders kann. Ich lehne mein Gesicht an die Handfläche, drücke meine geschlossenen Augen hinein. Mit seinem Daumen wischt er die Tränen weg. Ich muss schluchzen.
»Du schaffst das, Ani.«
Sein sanfter Trost wirkt auf eigenartige Weise überzeugend. Dieser Nachmittag hat etwas Unerklärliches an sich. Eine spezielle Mischung aus Hitze, Erschöpfung, Freundschaft und noch etwas anderem. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gefühlt. Ich weiß nicht, wie lange dieses Gefühl anhalten wird, aber für einen kurzen Moment ist es fast Glück. Ich hebe den Kopf und antworte Keds: »Ich weiß.«
Vier
Manchmal wacht man mitten in der Nacht zitternd und mit klopfendem Herzen auf und weiß nicht, warum. Man blickt in der Dunkelheit umher und hat keine Ahnung, ob man in einer U-Bahn durch die Nacht rast, in einem abstürzenden Fahrstuhl gefangen
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