Delhi Love Story
Sie hat sich umgezogen und streckt mir eine Tüte entgegen.
»Für mich?«, staune ich. »Was ist das – oh, Bücher!« In der Tüte sind drei schmale Bände und ein dickes Buch. Sie haben Eselsohren und Flecken. Vor allem sind alle Titel in einer geschwungenen Schrift geschrieben, die man unmöglich jemals lesen kann.
»Damit du Hindi lernen kannst«, erklärt sie.
»Oh, das wäre aber nicht nötig gewesen.«
»Und hier ist das Wörterbuch.«
»Das ist aber … dick!«
»Ja, es ist ein Englisch-Hindi-Wörterbuch. Die anderen Bücher gehören Ragi. Sie braucht sie nicht mehr. Rupa- Didi hat gesagt, du kannst sie haben.«
Toll, denke ich. Jetzt bekomme ich schon gebrauchte Sachen von Vierjährigen. Das wäre lustig, wenn es nicht so tragisch wäre. Ich lächle und bitte Rani, Rupa meinen Dank auszurichten. »Obwohl ich nicht sicher bin, dass ich genug Zeit haben werde …«
»Ich könnte dir jetzt etwas beibringen, wenn du willst.«
»Jetzt?«
»Oder später.«
»Später«, sage ich, und denke: Viel, viel später.
Rani ist der erste Gast in meinem neuen Zimmer. Sie sieht sich um, betrachtet den Tisch, den Computer, den Teppich und das Bett. Ich hatte schon lange keinen Besuch mehr und habe ganz vergessen, dass man vorher aufräumen sollte. »Entschuldige, ich bin ein bisschen unordentlich«, erkläre ich und schaufele Platz für sie auf meinem Bett frei.
»Möchtest du eine Cola oder so?«
Sie protestiert, aber ich stehe trotzdem auf. »Das kannst du nicht ablehnen, es ist ein gesellschaftliches Ritual für uns Rais. Ein bisschen wie Nasenreiben.« Ich gehe in die Küche und lasse eine verwunderte Rani zurück.
Als ich wiederkomme, hat sie mein Zimmer aufgeräumt. »Wahnsinn«, staune ich und entdecke Kleidungsstücke, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie besitze. Anscheinend hat Rani sie aus dem wachsenden Berg zu Füßen meines Bettes hervorgezogen. »Wenn Ma das hier sieht, wird sie in Ohnmacht fallen«, prophezeie ich. »Könntest du bitte jede Woche zum Aufräumen kommen?«
Sie lächelt; die Lachfältchen erreichen ihre karamellfarbenen Augen.
»Und du hilfst mir dann jeden Tag mit Ragi?«
Ich zucke zusammen. »Auf keinen Fall!«
Wir unterhalten uns gut; es fällt mir viel leichter, als
ich dachte. Sie kennt sich zwar weder mit iTunes, Jeans-Waschungen oder Rafa Nadal aus, aber ich mag ihre Art: Wie sie in ihrem ausgeblichenen roten Rock mit untergeschlagenen Beinen auf meinem Bett sitzt, mir aufmerksam zuhört, ab und zu eine Frage stellt, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Ich merke, dass sie doch ziemlich viel Ahnung hat, und frage mich, was in Jhansi los war und wieso sie ihre Familie verlassen hat und hierhergekommen ist. Denn leicht ist es bestimmt nicht, weit weg von der Familie bei ihrer komischen Cousine und ihrer schrecklichen Nichte zu leben. Von Rupas Schwiegermutter ganz zu schweigen. »Wie lange lebst du eigentlich schon hier?«, frage ich sie. »In Delhi, meine ich.«
»Drei Monate«, antwortet sie.
»Vermisst du deine Familie?«
»Nein, da gibt es niemanden mehr …« Sie blickt auf das Bild an der Wand.
»Das sind Ma und Papa im Garten«, erkläre ich. »In Minnesota.« Sie fragt nicht, und ich habe plötzlich das starke Bedürfnis, es ihr zu erzählen. »Papa ist vor zwei Jahren gestorben.«
Traurig und voller Mitgefühl sieht sie mich an. »Meine Eltern sind auch gestorben. Als ich klein war.«
Noch lange nachdem sie gegangen ist, denke ich darüber nach. Wie ihr Leben verlaufen ist und wie meines wohl verlaufen wäre, wenn ich beide Eltern verloren hätte. Hätte ich auch mit den Schultern gezuckt und so schrecklich traurig gelächelt wie Rani?
Als ich an dieses Lächeln denke, treten mir wieder Tränen in die Augen. Es ist unvorstellbar. Den Verlust beider Eltern hätte ich bestimmt nicht überlebt. Ma ist trotz ihrer ganzen Ma-haftigkeit immer noch Ma, sie existiert und sie ist warm und wunderbar und einfach da . Ich kann sie immer umarmen, wenn sie da ist. Immerhin.
Mein Handy blinkt, schon wieder eine SMS. »Muss noch arbeiten, Schatz«, schreibt Ma. »Warte nicht auf mich.«
»Bis nachher bei Äpfeln und Käse«, schreibe ich zurück.
Elf
Am Donnerstagmorgen sehe ich im Schulbus Pranay mit eingegipstem Arm. Natürlich sind alle neugierig. Er hat es geschafft, sich den rechten Arm zu brechen, und gibt endlos damit an. Denn so muss er sechs Wochen lang keine Prüfungen mitschreiben und keine Hausaufgaben machen. Er behauptet, die letzten
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