Delhi Love Story
entpuppt sich in den folgenden Tagen als ebenso anstrengend wie gleichförmig. Jeden Morgen beginne ich meine Reise durch die Leere aus Physik, Chemie, Mathematik und Biotechnologie, begegne Ziffern und Theorien, Säuren und Salzen, absolviere schwierige, zum Teil unverständliche Tests und ertrage meine schlechter werdenden Noten. Unter den pausenlos surrenden Deckenventilatoren in der 11 E schwirrt mir Tag um Tag der Kopf.
Die Lehrer sind freundlich. Sie bieten mir zur Übung zusätzliche Rechenaufgaben und Texte an, und sie erlauben mir, mehr Stunden in der Bibliothek zu verbringen als vorgesehen. Sie nehmen mich unter ihre Fittiche, entwerfen eigens für mich Übungsprogramme und Tutorien; sie stellen sicher, dass jede Stunde, jeder Tag und jede Woche optimal genutzt werden.
Immer öfter treffe ich spätnachts in der Küche auf Ma, die mit roten Augen über ihren Entwürfen sitzt. Früher habe ich mich nie gefragt, wie sie das eigentlich jede Nacht schafft. Ihre Entwürfe sind auf dem Esstisch ausgebreitet, ein Teller mit Apfelscheiben und Käse und ihre unvermeidliche Cola light stehen daneben. Ein Bein hat sie untergeschlagen; so sitzt sie stundenlang vorgebeugt auf dem Stuhl.
»Ann«, begrüßt sie mich am Dienstagabend, als ich nach zwei Stunden blutigem Kampf mit der Geometrie aus meinem Zimmer stolpere. »Was machst du so?«
»Hausaufgaben.«
»Zauberhaft!«
Sie sagt, ich solle mich zu ihr setzen und ihr alles erzählen. Ich nehme einen Schluck von ihrer Cola und erspare ihr nichts. Sie strahlt. »Ich wusste, die NPS ist das Richtige für dich!«
Ich deute auf die dunklen Ringe unter meinen Augen. »Das ist das Richtige für mich?«
»In so einer Umgebung kannst du dich entwickeln!«
»Wie eine Fliege im Misthaufen.«
Sie seufzt und rät mir, eine Stunde meiner knappen Zeit in die Arbeit an meiner Metaphorik zu investieren.
»Hier, iss etwas von dem Apfel«, sagt sie, »gute Ernährung ist wichtig.«
Ich schiebe den Teller weg und schlurfe zurück in mein Zimmer.
Nach dem Erlebnis auf dem Basketballplatz lassen die anderen mich in Ruhe. Alle außer Keds, Somes und Richa halten mich für seltsam und nicht besonders interessant. Annie mit den roten Haaren und dem komischen Akzent. Sie finden mich genauso toll wie ich sie. Aber all das fällt mir kaum auf, weil ich vor lauter Lernen einfach keine Zeit für andere Dinge habe.
Dabei gefällt mir die schulische Aufholjagd natürlich überhaupt nicht. Ich mache nur mit, weil ich muss. Am Esstisch über Unterlagen zu brüten, mag Ma Spaß machen
– mir nicht. Ich wollte mich für die Schule nie übermäßig anstrengen und in letzter Zeit wollte ich mich für gar nichts mehr anstrengen. Aber Ma hat seltsamerweise großes Vertrauen in meine Fähigkeiten. Werfen wir Annie ins kalte Wasser, sie wird es schon überleben. Deshalb habe ich gar keine andere Möglichkeit, ich muss überleben.
Als ich eines Mittwochs nachts über den Biotechnologie-Hausaufgaben brüte, während Ma sich mit den Feinheiten einer neuen Werbekampagne beschäftigt, finde ich es doch komisch, dass ich mich entgegen meiner festen Überzeugung jeden Tag bis spätabends so anstrenge. Als wäre ich genau wie Ma.
Natürlich bin ich ganz anders.
Trotzdem kommt es mir jede Nacht, wenn wir uns zu unserem seltsam erfrischenden Mitternachtsgespräch bei Cola und Apfel am Esstisch treffen, so vor, als wäre ich wie sie.
Zehn
Langsam finde ich es nicht mehr so neu, an einem neuen Ort zu wohnen. Manchmal befällt mich noch ein komisches Gefühl, wenn ich auf der Gemeinschaftsterrasse stehe oder in der brütenden Hitze aus dem Schulbus steige. Dieses Gefühl, im falschen Zimmer, auf dem falschen Stockwerk, an der falschen Haltestelle zu sein; dieses überwältigende Bedürfnis, in blinder Panik dem Schulbus hinterherzurennen.
Ich halte die Hand über die Augen und blicke dem Schulbus hinterher, der in der Ferne immer kleiner wird. Um mich herum spüre ich die Einsamkeit eines ereignislosen Nachmittags. Noch ein Tag, noch eine Nacht, und morgen geht alles wieder von vorne los. Ich seufze und zwinge mich, den staubigen Weg hinunter zu gehen.
Ein paar Meter vor mir läuft das stille Mädchen, das über uns wohnt. Sie geht langsam, mit schweren Schritten und gesenktem Kopf. Außer ihrem Rucksack trägt sie Einkaufstüten, deren Gewicht ihr das Gehen erschwert. Mindestens ein Dutzend der prall gefüllten Tüten schlägt gegen ihre Beine. Ich gehe schneller und hole sie ein. »Ich helfe dir«,
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