Delhi Love Story
zwölf Stunden mit der Verarbeitung seines Traumas verbracht zu haben. Er habe im Bett gefrühstückt und wolle heute Nachmittag zu Hause einen Film anschauen. Hasserfüllt höre ich ihm zu. Eine Weile überlege ich, mir auch den Arm zu brechen. Ich bitte Keds, mit dem Tennisschläger daraufzuhauen.
»Ach komm, Ani. So schlimm ist es hier nicht.«
»Du warst gestern ja auch nicht bis drei Uhr morgens wach.«
»Bis drei?«
»Versuch du mal, so viel Physikstoff auf einmal nachzuholen. «
»Aber Physik macht doch Spaß!«
Ich frage mich, ob es Totschlag oder Mord wäre, ihn aus dem fahrenden Bus zu schubsen. Schließlich gebe ich mich mit einem Tritt gegen sein Schienbein zufrieden.
»Sie spielt uns etwas vor«, sagt er grinsend zu den anderen. »Insgeheim liebt sie Physik genauso wie ich.«
»Insgeheim«, erkläre ich ihnen, »spinnt er total.«
Als ich aus dem noch fahrenden Bus springe, frage ich mich, ob Keds nicht doch ein bisschen recht hat. Die letzte Stunde über die Quantentheorie war beinahe interessant gewesen … Ich halte inne. Ich soll Physik mögen?
Aber jeden Morgen, wenn ich aus dem Busfenster blicke und die Ziegelgebäude der NPS sehe, spüre ich diesen unerklärlichen Adrenalinschub. Aus irgendeinem Grund ist die Hitze nicht mehr so glühend, sondern nur noch leicht drückend. Und selbst der wahnsinnig umfangreiche Lernstoff ist nicht mehr ganz so umfangreich. Ich fühle mich langsam leichter. Wüsste ich es nicht besser, hielte ich es für ein zartes Gefühl der Zugehörigkeit.
Ich versuche, es abzuschütteln, als ich das Schulgebäude betrete. Vielleicht werde ich krank? Die engen Fenster, feuchten Flure und meine uncoolen Mitschüler –auf der NPS ist es wirklich nicht besonders schön.
Und trotzdem …
Als ich über den Gang laufe, fällt mir die eigenartige
Mischung aus Ehrgeiz und Lockerheit auf, die hier herrscht. In manchen Ecken sitzen Schüler in Gruppen zusammen und bereiten sich auf Tests vor. Einige spielen Fußball mit einem verloren gegangenen Schuh. Ein Junge mit brüchiger Stimme lehnt am Wasserspender und verteilt Snacks an die Umstehenden. Es ist seltsam, dass die Leute hier trotz der riesigen Arbeitslast und der unkomfortablen Umgebung Spaß haben. Jeder scheint sich anzustrengen, ohne danach auszusehen, und die meisten kümmern sich um ihre Mitschüler, ohne sich das gleich anmerken zu lassen.
Trotzdem war ich an diesem einen Freitag überrascht, als ich Mrs Nath sagte, ich hätte die Hausaufgaben vergessen, und sie meinte, das wäre nicht so schlimm, sie könne darüber hinwegsehen. Und vor zwei Wochen, als ich den Bus verpasst hatte und viel zu spät kam, unterließ es Venky nicht nur, mir einen Verweis zu erteilen, sondern gab mir die Unterlagen zur Unterrichtsstunde. Letzten Donnerstag, als ich über einer furchtbar schwierigen Matheaufgabe brütete, blieb Sumita – deren Namen ich vorher gar nicht kannte – eigens länger in der Schule, um mir zu helfen. Ich konnte es kaum glauben.
Fast gegen meinen Willen berührt mich die Unverkrampftheit, die hier herrscht. Ich merke, dass die NPS sich selbst nicht so ernst nimmt, auch wenn es anfangs so wirkte. Manchmal lässt man hier einfach Dinge durchgehen. Manchmal können die Lehrer eine Frage nicht beantworten und sagen, sie müssten erst nachlesen; manchmal kommen sie zu spät zum Unterricht und wollen deshalb gerne glauben, dass man selbst aus wichtigem
Grund unpünktlich ist. Ich verstehe langsam, dass hier die Philosophie des »hota hai« 6 regiert – und die ist verbindlicher, als andere Leitlinien je sein könnten.
Der einzig mögliche Grund für diese Empfindungen ist, dass ich mich langsam mit der NPS anfreunde. Ich erliege den Lehrern, den Schülern, dem Inventar und den langen Fluren. Sei bloß vorsichtig, Annie , denke ich.
In der ersten Stunde hören wir alle aufmerksam Venky zu, als plötzlich Nangias Stimme aus den Lautsprechern tönt. Der Lautsprecher knackt, Nangia räuspert sich umständlich und fordert dann alle Lehrer auf, sofort für eine »kurze Besprechung in einer dringenden Angelegenheit« ins Büro des Direktors zu kommen. Wir schauen Venky an, der eben noch enthusiastisch über Festkörpermechanik gesprochen hatte.
»Sir, Dr. Nangia«, ertönt ein Hinweis aus der ersten Reihe.
Venky blickt hoch zum Lautsprecher, kratzt sich an der Nase und legt die Kreide beiseite. »Dann muss ich wohl los«, seufzt er.
»Es soll ja eine dringende Angelegenheit sein«, unterstützen ihn einige aus
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