Delhi Love Story
Zeit spüre ich ein Frösteln, leicht und süß.
Die Regentropfen laufen an der Brüstung hinunter und glänzen zwischen den Gitterritzen. Sie fangen das Licht ein, sehen aus wie die Halskette einer Königin oder eine schimmernde Krone. Ich lehne mich zurück und beobachte, wie sie ihre Formen verändern, wie sie tanzen, sich sammeln und in die Pfützen auf den roten Ziegeln fallen, wie sie zerplatzen und glänzen und wieder zusammenfließen.
Ein Windstoß bedeckt mein Gesicht mit einer dünnen Schicht Feuchtigkeit. Ich wische über meine Wangen, an meinen Fingern kleben wunderbare Ringelblumenblätter. Sie haben den ganzen Weg von den Tontöpfen bei der Brüstung bis zu mir zurückgelegt. Ich beobachte, wie die Blumen von den Windstößen geschüttelt werden. Über Nacht sind sie gewachsen; Orange und Gelb haben hundertfach das dicke Grün durchbrochen und liegen jetzt in fröhlicher Unordnung auf den roten Ziegeln verstreut. Ich sehe eine Weile zu, wie die Blätter und Blüten in den Pfützen umhertreiben, und blicke dann wieder in den endlosen Nachthimmel.
Er ist nach zwei Regentagen unglaublich klar. Die letzten zwei Monate schien er aus braunem Staub und grauem Rauch zu bestehen. Millionen von Sternen hatten sich dahinter versteckt. Jetzt sehen sie aus wie silberne Farbtupfer auf einer schwarzen Leinwand. Es sind die gleichen Sterne, zu denen ich auch in Minnesota aufgeblickt hatte, aber von hier aus erscheinen sie dichter, komplexer. Sie sind in neuen, unbekannten Mustern angeordnet.
Mir fällt auf, dass ich noch nie so viele Sterne an einem Abend gesehen habe.
»Frierst du nicht?«
Ich drehe mich zu Ma um, die durch die Glastüren auf die feuchte Terrasse tritt. Sie trägt ein dünnes Schultertuch und hat ein weiteres für mich mitgebracht.
»Nein danke«, lehne ich ab, als sie es mir anbietet.
»Stimmt, du stammst ja aus Minnesota.« Sie lächelt; eine Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht. Sie setzt sich in den Liegestuhl neben mir.
Ich blicke wieder in den Himmel. Er breitet sich über mir aus, so nah, dass ich einfach hineingreifen könnte. Ich könnte hindurchfliegen, ohne jemals wieder anzuhalten. Was bedeuten schon Minnesota oder Indien von dort oben aus betrachtet?
»Kaum zu glauben, aber es ist fast ein Uhr.«
Ma legt die Füße auf meine Armlehne und rutscht tiefer in ihren Stuhl, bis sie fast darin liegt. »Ah«, seufzt sie, während sie ihren Nacken reibt, »es ist, als hätte ich eben erst mit der Arbeit an dieser Kampagne begonnen. Vielleicht muss ich die ganze Nacht durchmachen. «
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Mmm«, sagt sie. Eine kühle Brise weht noch mehr Ringelblumenblätter zu uns hinüber. »Wie angenehm. Morgen wird es damit vorbei sein, fürchte ich.«
»Es könnte aber auch weiterregnen.«
»Wenn es weiterregnet, werden wir bestimmt überschwemmt. «
Kaum zu glauben, dass vor zwei Tagen noch 40 Grad Celsius geherrscht hatten – bei einer Luftfeuchtigkeit von deutlich über 90 Prozent. Das Klassenzimmer fühlte sich an wie ein Kohlekessel, Mrs Naths Kopf schien zu dampfen. Durch die Fenster drang so viel heißes Licht, dass wir nicht lesen konnten, was auf der Tafel stand. Doch plötzlich nahmen die Worte Gestalt an, das Licht verschwand und dichte, dunkle Wolken türmten sich übereinander wie der Rauch eines Lagerfeuers. Die Wolken rasten an den Fenstern vorbei und bedeckten binnen Minuten den gesamten Himmel. Der eben noch sonnige Nachmittag war plötzlich schwarz wie die Nacht. Durch die flackernden Neonröhren an der Wand wirkte das Klassenzimmer wie eine Notunterkunft. Die riesigen Wolken drückten tiefer und tiefer und rissen so nah über dem Gebäude auf, dass es sich anfühlte, als sei die Schule eingestürzt. Ich hielt mir die Ohren zu, krallte mich am Tisch fest und starrte gebannt hinaus in den Platzregen. Sturm und Regen kannte ich natürlich aus Minnesota, aber auf so etwas war ich nicht vorbereitet. Die Regentropfen waren so groß wie kleine Steine; binnen Sekunden verwandelten sie sich in wahre Sturzbäche. In nur zwei Minuten war der Schulhof völlig eingeweicht, zwanzig Minuten später waren die Straßen unter den Wassermassen verschwunden. Nach ein paar Stunden meldeten die Radionachrichten, das gesamte öffentliche Leben sei zum Erliegen gekommen. Am nächsten Tag zeigten die Zeitungen Bilder von gestrandeten Bussen, überschwemmten Autos, Büffeln, die bis zur Hüfte im Wasser standen, und Kindern, die im Regen
tanzten. Der Monsun kommt!
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