Delhi Love Story
härten uns ab«, analysiert Keds, als ich ihn nach seiner Meinung frage. »Warum hast du es denn so eilig?«
»Bist du überhaupt nicht gespannt?«
»Nein.«
Seine Unbekümmertheit beunruhigt mich. Ihn wiederum amüsiert meine Angst. Wir sind einfach ganz verschieden. Durch seine Adern fließen Hoffnung und Optimismus; durch meine nur Angst.
»Wir werden es schon früh genug erfahren, Ani. Und es wird ohnehin nichts ändern.«
Keds muss ein Neandertaler sein. Er ist zu primitiv, um die Bedeutung schwieriger Themen wie Stress, Schlaflosigkeit oder Untergangsszenarien zu begreifen. »Natürlich ändert es etwas«, widerspreche ich. »Was ist, wenn ich durchgefallen bin? Kannst du dir die Konsequenzen vorstellen?«
»Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du spinnst?«
»Hast du so lange gebraucht, um das zu merken?«
An einem Mittwochnachmittag werden die Noten bekannt gegeben, fast beiläufig überreicht uns ein Lehrer die braunen Umschläge. Mit versteinertem Gesichtsausdruck nehme ich meinen entgegen und gehe zu meinem Platz zurück. Ich setze mich auf die Stuhlkante und öffne mit zitternden Fingern den Umschlag.
Das muss ein schlechter Witz sein. Ich starre auf die Zahlenreihen und spüre gar nichts, selbst dann nicht, als ich mich kneife. Oben auf dem Blatt steht mein
Name, aber die Noten gehören ganz bestimmt zu jemand anderem. Jemand, der in Biotechnologie ganz gut abgeschnitten hat, der in Mathe und Englisch respektable Ergebnisse erzielt, einen Gesamtdurchschnitt von 81 Punkten erreicht und eine Belobigung erhalten hat; eine Person, über die Nangia schreibt, sie habe »großes Potenzial und könnte noch besser sein, wenn sie sich weiter anstrengt«.
Ich taste nach meinem Puls, spüre ihn, er springt verwirrt auf und ab. Noch bin ich nicht überzeugt. Das könnte alles eine Täuschung sein. Ich sehe mich nach dem Rest der Klasse um, alle sind noch da, bewegen sich ganz normal. Wenn das ein Traum ist, ist er ziemlich realistisch, bis hin zu den Geräuschen. »Mist«, sagt Richa neben mir, als sie ihren Umschlag geöffnet hat. »Ich bin TOT. Eine 70 in Englisch, ist das zu glauben? «
Somes lehnt sich zu ihr nach vorne. »Ich habe eine 66, falls du dich jetzt besser fühlst.«
»Du weißt, was das bedeutet, oder?«
»Tutorien«, stöhnt er, »was sonst?«
»Und wir werden in den gleichen Tutorien sitzen –zusammen! Ist das nicht cool?«
Somes sieht die strahlende Richa einen Augenblick an, dann schüttelt er den Kopf. »Wann wurde dein Gehirn zuletzt untersucht?«, fragt er.
»Noch nie«, lächelt sie, »und deines?«
Somes sieht überrascht aus, dann gesteht er die Niederlage ein: »Der Punkt geht an dich.«
»Ani!«, ruft Keds. »Wie lief es bei dir?«
»Ich bleibe wohl doch hier«, sage ich und schiebe ihm meine Ergebnisse hin.
Er sieht sie sich an, grinst und schnippst mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Die Zeit, bis Ma nach Hause kommt, erscheint mir ewig. Als sie um kurz nach neun die Tür aufschließt, versuche ich, ganz unauffällig auszusehen. Dabei platze ich fast, als ich die Hausaufgaben beiseiteschiebe und auf sie zugehe. Wird sie es gleich bemerken? Wird sie das Leuchten über meinem Kopf sofort entdecken?
»Schatz, stimmt etwas nicht?«, fragt sie.
»Doch, alles in Ordnung. Aber … rate mal!«
»Was denn?«
»Tante Isha!«
Mist. Ich hatte die »liebe Rani« ganz vergessen, die immer so fleißig und still an ihrem neuen Laptop sitzt. Jetzt kommt sie strahlend aus ihrem Zimmer gelaufen und überreicht Ma ein paar eng mit Tinte beschriebene Blätter. Ma bekommt große Augen. »Oh mein Gott« , seufzt sie.
Die karamellfarbenen Augen strahlen golden, die Lippen lächeln sanft und süß.
»Ann, hast du das gesehen?«
Ich sehe mir die Blätter an. Es ist ein Mathetest. Oben auf dem ersten Blatt steht in roter Tinte: »100 %.« Eins Null Null. So etwas habe ich noch nie gesehen.
»Rani! Das ist großartig!«
Ma umarmt sie fest. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Es fällt mir nicht leicht, es ist wie Grimassenschneiden
für die Kamera. Das Blatt mit meinen Resultaten, das ich hinter meinem Rücken verstecke, kommt mir jetzt unscheinbar vor. Was zunächst wie eine große Leistung gewirkt hatte, schrumpft jetzt zu Mittelmäßigkeit.
»Ist sie nicht wunderbar, Ann?«
»Atemberaubend.«
Ich wende den Blick vom Wunderkind ab. Ich bin eine Glühbirne mit Dimmer, aber sie ist die Sonne. Ich zerknülle das Blatt mit meinen Noten und überlege, wie ich es unbemerkt
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