Delia 1 - Delia, die weisse Indianerin
Pützmeier waren weit; jetzt brauchte sie sich nicht mehr damenhaft zu benehmen.
Der Mops lief den beiden Mädchen voraus und war als Erster in dem Zirkuswagen. Mit einem Satz eroberte er eines der schmalen Betten, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und beobachtete die beiden Mädchen aufmerksam bei ihrem Tun. Der Wagen war so eng, dass man sich kaum darin rühren konnte. Die Betten, im ganzen vier, waren flüchtig gemacht, aber sonst herrschte ein schlimmes Durcheinander.
Doch Katinka kannte sich aus. Sie lehnte ein schmales Leiterchen gegen die Wand und kletterte bis unter das Dach des Wagens. Dort oben zogen sich an beiden Längsseiten Bretter hin, auf denen allerlei Kram herumstand. Katinka ergriff ein zu einem Sack zusammengeknotetes Tuch, warf es Delia herunter, die zu überrascht war, den Ballen aufzufangen. Er plumpste zu Boden.
„Mach auf“, sagte Katinka und glitt, geschmeidig wie ein Eichhörnchen, wieder herunter. „Da drin sind Kaspars alte Sachen. Ich wette, wir werden was Passendes für dich finden. Allerdings, schön sind sie nicht mehr!“
Nein, schön waren Kaspars abgelegte Anzüge wirklich nicht!
Katinka kniete sich auf den Boden und hielt ein Stück nach dem anderen gegen das Licht der blakenden Öllampe. Delia verzog unwillkürlich das Gesicht, als sie die geflickten und gestopften Kittel und Hosen sah, und auch Katinka blickte zweifelnd von den armseligen Kleidungsstücken auf Delias elegantes Gewand.
„Willst du wirklich?“ fragte sie.
„Ich muss wohl“, sagte Delia jetzt doch ein wenig zögernd.
„Na, jedenfalls sind keine Bewohner drin“, erklärte Katinka.
Delia verstand nicht. „Bewohner?“
„Na, Ungeziefer meine ich“, sagte Katinka. „Läuse und Flöhe ...“
Delia schauderte es.
Katinka lachte. „Du brauchst keine Angst zu haben! Ich selbst habe alles gründlich gewaschen ... Ganz davon abgesehen ist eine Laus schließlich kein Löwe!“
Jetzt musste Delia lachen. „Na, dann gib her!“ sagte sie entschlossen. „Wahrscheinlich werde ich schlimmere Abenteuer zu bestehen haben!“
Sie begann sich auszuziehen, und Katinka betrachtete und befühlte andächtig jedes einzelne Teil ihrer Kleidung – den weichen Wollstoff des karierten Kleides, die seidenen, mit Spitzen besetzten Unterröcke, die hübschen kleinen Kalbslederstiefelchen. Sie setzte sich sogar Delias Hütchen auf die roten Locken und betrachtete sich hingerissen in dem kleinen, fast blinden Spiegel.
„Wie herrlich!“ rief sie. „Oh, wie wunderbar! Wenn ich so schöne Sachen hätte – nie im Leben würde ich mich davon trennen!“
Delia war inzwischen in die raue lange Hose geschlüpft, die denen glich, die ihre Vettern Paul und Peter bei der Stallarbeit zu tragen pflegten, und zog den verblichenen blauen Kittel über den Kopf. Sie bewegte Arme und Beine, um in der ungewohnten Tracht heimisch zu werden.
„Na, wie sehe ich aus?“ fragte sie und drehte sich in dem engen Raum wie ein Kreisel um sich selbst.
Katinka staunte sie mit offenem Mund an, dann brach sie in ein helles Gelächter aus. „Zu komisch!“ rief sie. „Fast wie ein Junge! Deine eigene Mutter würde dich so nicht wiedererkennen!“
Delia stimmte in das Lachen mit ein. „Dann bin ich zufrieden!“ rief sie.
„Nur dein Haar“, sagte Katinka, „das ist zu lang!“
„Hast du eine Schere?“ fragte Delia.
„Du willst es abschneiden?“ rief Katinka entsetzt.
„Was denn sonst? Wenn schon, denn schon!“
„Du hast Mut“, sagte Katinka anerkennend. „Du bist gar nicht so, wie ich mir ... na, du weißt schon ... die feinen Demoiselles vorgestellt habe!“
„Kunststück!“ Delia verzog den Mund, sodass ihre frechen, spitzen Eckzähne sichtbar wurden. „Ich bin auch nie wirklich fein gewesen!“ Sie rieb sich die Nase. „Zum Kummer meiner Mama“, fügte sie hinzu, und ein Schatten glitt über ihr Gesicht.
„War sie nicht zufrieden mit dir?“ fragte Katinka teilnahmsvoll.
„Ich konnte ihr nichts recht machen. Aber“ – Delias rundes Gesichtchen strahlte schon wieder auf – „wenn ich ihr unseren Vater aus Amerika zurückhole, dann wird sie wohl zufrieden mit mir sein! Dann wird sie einsehen, dass ich mehr tauge als meine beiden Schwestern, die albernen Gänse!“
„Wenn du dir wirklich die Haare schneiden lassen willst“, sagte Katinka, „ich kann das! Bei Kaspar und bei Onkel Beppo mache ich das auch immer – mit einem Kochtopf! Soll ich?“
„Nur zu“, sagte Delia. „Worauf wartest du
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