Delikates zum Dessert
sie beobachtet wird, dreht sie den Kopf herüber, lächelt Mel charmant zu und winkt. Melanie erschrickt, erwidert aber das Lächeln.
Als die Braut am Arm ihres Vaters durch den Mittelgang hereinkommt, schießen Melanie Tränen in die Augen. Während der Zeremonie hat sie die Bilder der gemeinsamen Kindertage so klar vor Augen, als liefe ein Super-Acht-Film. Imke und ihr Henning: Die beiden gehö ren einfach zusammen.
Nach der kirchlichen Trauung fahren alle unter Hupen in ein entlegenes Dorf. Der Landgasthof, in dem die Feier stattfindet, ist aus rotem Backstein und liegt an einem Weiher. Mel hat schon vor dem Essen einen Schwips.
Auf Imke und ihren Sinn für eine gerechte Tischordnung ist Verlass: Karsten und Silke sitzen meilenweit entfernt – inmitten all der Leute, die schon früher Langweiler waren. Kleine Rache unter Freunden. In Mels Umgebung fliegen die Pointen hin und her. Mel strahlt. Ihr Tischnachbar Jens ist ein Junge, den sie noch aus Grundschultagen kennt, vom Typ Gut-zurecht-gewachsener-Lausbub. Alles, was er sagt, hat Wortwitz.
Nach dem Essen schleppt sich die Horde zum Weiher. Ein paar wollen baden. Auf dem Weg zum Steg fällt Melanie auf, dass Silke wie bestellt und nicht abgeholt auf dem Rasen beim Gasthof steht. Sie hält ihre hohen Schuhe in der Hand und schaut sich suchend nach Anschluss um. Niemand fragt sie, ob sie mitkommen möchte. Auf dem Rückweg vom Baden, Jens im Gefolge, sieht Mel en passant, wie Karsten am Hinterausgang der Restaurantküche steht und mit einem der Mädchen spricht, die das Essen serviert haben. Sie verkörpert das Klischee einer Dorfschönheit mit langen Locken und tiefem Dekolletee.
Vor dem Haus sitzt Silke unterdessen allein unterm Sonnenschirm und blättert in einer Illustrierten. Die Ärmste, denkt Melanie und meint es nicht einmal zynisch. Nachmittags beim Kaffee sitzt Jens neben Melanie unter den Linden, zupft ihr ein Blatt aus dem Haar und flüstert ihr kleine Frechheiten ins Ohr. Karsten glotzt ins Dekolletee der Dorfschönheit. Silke unterhält sich mit Karstens Mutter. Der Typ ist doch echt das Letzte , denkt Melanie. Und das nicht zum ersten Mal.
Abends, als alle am Büfett im Nebenraum des Festsaals Schlange stehen, beobachtet Melanie, wie Silke und Karsten sich streiten. Sie gestikuliert und zischt ihn an. Er verdreht die Augen.
Jens steht hinter Mel, haucht ihr einen Kuss in den Nacken und bittet sie um den letzten Tanz des Abends.
„Ehrensache“, sagt sie. Dann wird gefeiert.
Je später der Abend, desto deutlicher wird, dass Karsten der Bedienung hinterhersteigt. Irgendwann sind die beiden von der Bildfläche verschwunden. Silke steht am Rand der Tanzfläche und macht gute Miene zum bösen Spiel. Melanie, die wild tanzt, beobachtet, dass ihre Konkurrentin immer schlechtere Laune bekommt und kann es schließlich nicht mehr mit ansehen: Sie nimmt Silkes Hand, zieht sie in einem Akt der Gnade auf die Tanzfläche und stellt sie den anderen vor. In einem gerechten Leben , denkt Mel, könnte sie glatt meine Freundin werden.
Es ist nach drei Uhr morgens, die Reihen haben sich gelichtet, und das Brautpaar ist nach Hause gefahren, als Melanie einen nächtlichen Appetit verspürt. Sie tastet sich durch den bereits dunklen Raum, in dem das Büfett aufgebaut ist, um sich noch einen Teller Suppe zu holen. Sie steuert auf die Gulaschkanone zu, die sich genau in dem Lichtkegel befindet, der durch die offene Saaltür über das Büfett fällt. Mel will gerade zur Kelle greifen, als sie neben sich ein Geräusch hört. Vor Schreck lässt sie die Suppentasse fallen. Keinen Meter entfernt sitzt Miss Schanghai auf dem Büfett. Als Mels Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht sie, wie Silke mit angezogenen Knien inmitten von Salaten, Partybrötchen und Zwiebelmett-Igeln sitzt und Bratkartoffeln aus einer Pfanne futtert. Die Frau im moosgrünen Kleid bricht das Schweigen.
„Wir haben was gemeinsam“, sagt Silke.
„Echt?“, fragt Mel. „Was denn?“
„Einen Exfreund“, stellt Silke fest.
„Oh.“ Mehr fällt Mel dazu nicht ein. Dann lacht sie trocken auf. Absurd, das alles.
„Das war nett von dir, vorhin auf der Tanzfläche“, sagt Silke. „Dabei kann ich mir vorstellen, wie du wegen Karsten leidest. Ich habe dir angesehen, wie sehr du mich hasst.“
„Wer ist Karsten?“, fragt Mel und mimt die Supercoole. „Ich hab nichts gegen dich persönlich.“ Diese Gelassenheit kann nur vom Alkohol kommen. Oder von Jens? Oder von
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