Delirium
stoÃe einen unterdrückten Schrei aus. Dann tasten seine Hände über meine Arme, sein Mund stöÃt gegen meine Nase und er küsst mich.
»Alles in Ordnung«, sagt er. Er spricht fast in normaler Lautstärke, offenbar sind wir in Sicherheit. »Ich gehe nirgendwohin. Ich muss nur diese dämliche Taschenlampe finden, okay?«
»Ja, okay.« Ich gebe mir Mühe, normal zu atmen, und komme mir blöd vor. Ich frage mich, ob Alex es wohl bereut, mich mitgenommen zu haben. Ich habe mich ja nun nicht gerade durch meinen Mut hervorgetan.
Als ob er meine Gedanken lesen könnte, gibt Alex mir noch einen kurzen Kuss, diesmal in die Nähe meines Mundwinkels. Anscheinend haben sich seine Augen auch noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. »Du machst das groÃartig«, sagt er.
Dann höre ich, wie er irgendwo zwischen den Zweigen raschelt und dabei leise Verwünschungen ausstöÃt, einen Monolog, dem ich nicht ganz folgen kann. Etwas später erklingt ein kurzer, begeisterter Schrei und einen Augenblick danach durchschneidet ein breiter Lichtstrahl die Dunkelheit über uns und beleuchtet die dicht gewachsenen Bäume und Pflanzen.
»Hab sie«, sagt Alex grinsend und hält mir die Taschenlampe entgegen. Er richtet den Lichtstrahl auf eine rostige Werkzeugkiste, die halb im Boden vergraben ist. »Sie ist hier versteckt für die, die über die Grenze kommen«, erklärt er. »Fertig?«
Ich nicke. Jetzt, da wir sehen können, wo wir hingehen, fühle ich mich gleich viel besser. Die Zweige über uns bilden einen Baldachin, der mich an die gewölbte Decke der St.-Paul-Kathedrale erinnert, wo ich immer in der Sonntagsschule gesessen und mir Predigten über Atome, Wahrscheinlichkeit und Gottes Ordnung angehört habe. Die Blätter rascheln und zittern um uns herum, bilden ein ständig wechselndes Muster aus Grün und Schwarz, das von unzähligen unsichtbaren Wesen, die von Ast zu Ast hüpfen, zum Tanzen gebracht wird. Immer mal wieder spiegelt sich der Strahl von Alexâ Taschenlampe einen kurzen Moment in leuchtenden, weit aufgerissenen Augen, die uns ernst aus dem Blätterwerk anschauen, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwinden.
Es ist unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen â all dieses Leben, das überallhin drängt, wächst, als dehnte es sich in jeder Sekunde weiter aus. Ich kann es nicht richtig erklären, aber irgendwie fühle ich mich dadurch klein und dumm, als wäre ich bei jemandem auf dem Grundstück eingedrungen, der viel älter und wichtiger ist als ich.
Alex geht jetzt zielstrebiger, schiebt gelegentlich einen Ast für mich beiseite oder schlägt auf die Ãste ein, die uns den Weg versperren, aber ich kann keinen Pfad ausmachen und nach einer Viertelstunde fürchte ich, dass wir im Kreis gehen oder uns völlig im Wald verirren. Ich will ihn gerade fragen, woher er weiÃ, wo wir hinmüssen, als mir auffällt, dass er hin und wieder zögert und seine Taschenlampe über die Baumstämme schweifen lässt, die uns umgeben wie groÃe, geisterhafte Silhouetten. Einige sind mit einem blauen Strich gekennzeichnet.
»Die Farbe â¦Â«, sage ich.
Alex wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Unsere Landkarte«, sagt er und drängt weiter, dann fügt er hinzu: »Glaub mir, hier drin verläuft man sich besser nicht.«
Und dann hören die Bäume ganz plötzlich auf. Gerade waren wir noch mitten im Wald und im nächsten Moment treten wir auf eine befestigte StraÃe hinaus, ein Band aus Beton, das vom Mondlicht silbern angestrahlt wird wie eine gerippte Zunge.
Die StraÃe ist voller Schlaglöcher, stellenweise aufgerissen und mit Beulen übersät und wir müssen um riesige Haufen Betonschutt herumgehen. Sie schlängelt sich einen langen niedrigen Berg hinauf und verschwindet dann hinter der Hügelkuppe, wo die nächste schwarze Reihe Bäume beginnt.
»Gib mir deine Hand«, sagt Alex. Er flüstert wieder, und ohne zu wissen, warum, bin ich froh darüber. Aus irgendeinem Grund ist mir, als hätte ich gerade einen Friedhof betreten. Auf beiden Seiten der StraÃe erstrecken sich riesige Lichtungen mit hüfthohem Gras, das sich singend und flüsternd aneinander reibt. Vereinzelt stehen ein paar dünne junge Bäume mitten auf dem offenen Feld, zerbrechlich und ungeschützt. Ich entdecke etwas, das
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