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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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versuche den Kopf zu schütteln, passiert nichts. Ich fühle mich, als wäre ich wieder in meinem Traum, würde in die Dunkelheit gesaugt, ruderte herum wie ein Insekt, das in einem Honigtopf festsitzt.
    Vielleicht merkt Alex, wie ängstlich ich bin. Er beugt sich vor und tastet einen Moment nach meinem Ohr. Sein Mund stößt an meinen Hals, streicht leicht über meine Wange – trotz meiner Panik erzittere ich wohlig – und streift dann mein Ohrläppchen. »Es wird alles gut«, flüstert er und das hilft mir ein bisschen. Solange ich bei Alex bin, wird nichts Schlimmes passieren.
    Dann sind wir wieder auf den Beinen. Wir hasten in Etappen vorwärts, rennen lautlos von einem Baum zum nächsten und halten dann an, während Alex lauscht, ob sich auch nichts verändert hat, dass keine Schreie oder Geräusche sich nähernder Schritte zu hören sind. Die ungeschützten Strecken – in denen wir von Deckung zu Deckung laufen – werden länger, die Bäume spärlicher, und wir kommen der Linie immer näher, wo Gras und Pflanzen ganz verschwinden und wir uns übers offene Feld bewegen müssen, vollkommen ausgeliefert. Es sind nur ungefähr fünfzehn Meter vom letzten Strauch bis zum Zaun, aber mir erscheint es wie ein See aus brennendem Feuer.
    Hinter den aufgerissenen Resten einer Straße, die es schon gab, bevor Portland eingezäunt wurde, liegt der Zaun. Silbern ragt er im Mondlicht auf wie ein riesiges Spinnennetz, an dem Sachen festkleben, gefangen und gefressen werden. Alex hat mir gesagt, ich solle mir Zeit lassen, mich konzentrieren, wenn ich über den Stacheldraht oben auf dem Zaun klettere, aber ich komme nicht umhin, mir vorzustellen, wie ich von all diesen scharfen, spitzen Stacheln aufgespießt werde.
    Und dann sind wir plötzlich draußen, über den begrenzten Schutz hinaus, den die Bäume bieten, bewegen uns schnell über die losen Kiesel und den Schiefer der alten Straße. Alex läuft vor mir, tief geduckt, und obwohl ich mich so klein mache, wie ich kann, fühle ich mich ausgeliefert. Die Angst kreischt, dringt von allen Seiten gleichzeitig auf mich ein; so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich bin mir nicht sicher, ob der Wind stärker wird oder ob das nur die Panik ist, die mich durchfährt, aber mein ganzer Körper fühlt sich an wie Eis.
    Die Dunkelheit scheint überall um uns herum lebendig zu werden, voller flitzender Schatten und bösartig aufragender Formen, die sich jeden Moment in einen Wachmann verwandeln können, und ich höre schon beinahe Schreie, Seufzen, Sirenen, sirrende Kugeln, die die Stille durchschneiden. Ich stelle mir brüllenden Schmerz und helle Lichter vor. Die Welt verwandelt sich in eine Reihe unverbundener Bilder: ein heller weißer Lichtkranz um Wachhäuschen einundzwanzig, das sich immer weiter ausdehnt, als wäre es hungrig und wollte uns verschlingen; darin ein Wachmann, der sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hat und mit offenem Mund schläft; Alex, der sich lächelnd zu mir umdreht – ist es möglich, dass er lächelt? Steine, die unter meinen Füßen tanzen. Alles fühlt sich weit entfernt an, so unwirklich und fadenscheinig wie der Schatten einer Flamme. Selbst ich fühle mich nicht wirklich an, spüre nicht, wie ich atme oder mich bewege, obwohl ich sicherlich beides tue.
    Und dann sind wir einfach so am Zaun. Alex springt in die Luft und einen Augenblick schwebt er dort. Ich will schreien: Halt! Halt! Ich stelle mir das Knallen und Zischen vor, wenn sein Körper mit fünfzigtausend Volt Elektrizität in Berührung kommt, aber dann landet er am Zaun und der Zaun schwankt lautlos: leblos und kalt, genau wie Alex gesagt hat.
    Ich sollte hinter ihm herklettern, aber ich kann nicht. Nicht sofort. Erstaunen kriecht durch mich hindurch und schiebt die Angst langsam weg. Seit ich ein Baby war, hatte ich Angst vor dem Grenzzaun. Ich bin nie näher als anderthalb Meter rangegangen, das hatte man uns eingebläut. Man hatte uns gesagt, sonst würden wir gebraten; hatte uns gesagt, unsere Herzen würden verrücktspielen und wir wären sofort tot. Jetzt strecke ich den Arm aus und greife mit der Hand in den Maschendraht, fahre mit den Fingern darüber. Leblos, kalt und harmlos, dieselbe Art Zaun, die die Stadt für Spielplätze und Schulhöfe benutzt. In diesem Moment wird mir wirklich klar, wie tief gehend und komplex

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