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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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aussieht wie aufeinandergestapelte riesige Holzbalken, und irgendwelche verdrehten Dinger, vielleicht aus Metall, die im Gras leuchten und glitzern.
    Â»Was ist das?«, flüstere ich Alex zu, aber im selben Moment steigt ein kleiner Schrei in meiner Kehle auf und ich weiß, was es ist.
    Mitten auf einem der Felder aus flüsterndem Gras steht ein großer blauer Lieferwagen, in perfektem Zustand, als hätte jemand einfach angehalten, um ein Picknick zu machen.
    Â»Das hier war mal eine Straße«, sagt Alex. Seine Stimme klingt jetzt angespannt. »Sie ist während der Offensive zerstört worden. Es gibt Tausende und Abertausende davon im ganzen Land. Zerbombt, völlig kaputt.«
    Ich schaudere. Kein Wunder, dass ich das Gefühl hatte, über einen Friedhof zu gehen. Das tue ich in gewisser Weise auch. Die Offensive war ein jahrelanger Feldzug, der weit vor meiner Geburt stattgefunden hat, als meine Mutter noch ein Baby war. Er hatte angeblich alle Invaliden vernichtet und alle Widerständler, die sich weigerten, ihr Zuhause zu verlassen und in eine genehmigte Ortschaft zu ziehen. Meine Mutter hat mal gesagt, dass alle ihre frühesten Kindheitserinnerungen von Bombenexplosionen und Rauchgeruch überlagert seien. Sie sagte, dass der Geruch nach Feuer noch jahrelang über die Stadt zog und der Wind immer eine Aschewolke mit sich brachte.
    Wir gehen weiter. Mir ist zum Weinen zu Mute. Hier zu sein und das hier zu sehen ist etwas völlig anderes als das, was ich im Geschichtsunterricht gelernt habe: lächelnde Piloten mit hochgereckten Daumen, Leute, die an den Grenzen jubelten, weil wir endlich in Sicherheit waren, Häuser, die kontrolliert abbrannten, ohne Chaos, als würde man sie einfach von einem Computerbildschirm löschen. In den Geschichtsbüchern lebten eigentlich keine Menschen in diesen Häusern; es waren nur Schatten, Gespenster, alles ganz unwirklich. Aber als Alex und ich Hand in Hand die zerbombte Straße entlanggehen, wird mir klar, dass es so nicht gewesen ist. Es herrschte sehr wohl Chaos und stank und es gab Blut und roch nach verbrannter Haut. Es gab Menschen: Menschen, die dort lebten und aßen, telefonierten, Spiegeleier brieten oder unter der Dusche sangen. Trauer um alles, was verloren ist, überwältigt mich, und ich bin wütend auf die Leute, die es genommen haben. Meine Leute – oder zumindest die, die früher meine Leute waren. Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin oder wo ich hingehöre.
    Das stimmt nicht ganz. Alex. Ich weiß, dass ich zu Alex gehöre.
    Ein bisschen weiter den Berg rauf kommen wir an einem intakten weißen Haus mitten auf einem Feld vorbei. Irgendwie hat es den Angriff unbeschadet überstanden, und abgesehen von einem schiefen Fensterladen, der sanft im Wind klappert, könnte es irgendein Haus in Portland sein. Es sieht so seltsam aus, wie es da inmitten all dieser Leere steht, umgeben von den Trümmern der zerstörten Nachbarhäuser. Es sieht winzig und einsam aus wie ein einzelnes Lamm, das sich auf die falsche Weide verirrt hat.
    Â»Wohnt hier noch jemand?«, frage ich Alex.
    Â»Manchmal übernachten Leute hier, bei Regen oder Frost. Allerdings nur die Vagabunden – die Invaliden, die immer unterwegs sind.« Er zögert erneut einen Sekundenbruchteil, bevor er Invaliden sagt, und verzieht das Gesicht, als verursachte ihm das Wort einen schlechten Geschmack im Mund. »Wir halten uns lieber von hier fern. Die Leute sagen, die Bomber könnten zurückkommen und ihre Arbeit vollenden. Aber hauptsächlich ist es Aberglaube. Die Leute glauben, das Haus sei verflucht.« Er lächelt mich verkniffen an. »Es ist allerdings komplett ausgeräumt worden. Betten, Laken, Kleider – alles. Mein Geschirr ist von hier.«
    Vorher hat Alex mir erzählt, dass er seinen eigenen Platz in der Wildnis hat, aber als ich ihn ausfragen wollte, hat er keinen Pieps mehr gesagt und erklärt, ich müsse abwarten und es selbst sehen. Es ist immer noch eine komische Vorstellung, dass Leute hier draußen leben, mitten in dieser Weite, und Geschirr und Decken und lauter solche gewöhnlichen Dinge benötigen.
    Â»Hier lang.«
    Alex zieht mich von der Straße und in Richtung Wald. Ich bin froh, wieder zwischen den Bäumen zu sein. Dieses seltsame offene Land mit dem einzelnen Haus, dem verrosteten Lastwagen und den zerstörten Gebäuden hat etwas Bedrückendes

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