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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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die Lügen sind, dass sie sich durch Portland ziehen wie Abwasserkanäle, sich überall stauen, die Stadt mit Gestank füllen. Die ganze Stadt ist auf einem Feld von Lügen errichtet.
    Alex klettert schnell; er ist bereits halb oben. Als er einen Blick über die Schulter wirft, sieht er, dass ich immer noch reglos dastehe wie ein Idiot. Er ruckt mit dem Kopf, wie um zu sagen: Was machst du da?
    Ich strecke meine Hand erneut zum Zaun aus und ziehe sie sofort wieder zurück. Der Schock, der mich durchfährt, hat nichts mit der Hochspannung zu tun, die eigentlich hier durchlaufen sollte. Mir ist gerade etwas aufgegangen.
    Es war alles gelogen – das mit dem Zaun, den Invaliden und eine Million andere Dinge. Sie haben gesagt, die Razzien dienten unserem eigenen Schutz. Sie haben gesagt, den Aufsehern ginge es nur um den Frieden.
    Sie haben gesagt, Liebe sei eine Krankheit. Sie haben gesagt, wir würden daran sterben.
    Zum ersten Mal wird mir klar, dass auch das eine Lüge sein könnte.
    Alex wiegt sich vorsichtig am Zaun hin und her, so dass er ein bisschen schwankt. Ich sehe ihn an und er macht mir wieder ein Zeichen. Wir sind nicht in Sicherheit. Wir müssen weiter. Ich strecke den Arm aus, ziehe mich hoch und fange an zu klettern. Am Zaun zu hängen ist irgendwie noch schlimmer, als ungeschützt unten auf dem Kies zu stehen. Dort hatten wir wenigstens noch ein bisschen Kontrolle – wir hätten gesehen, wenn sich ein Wachmann genähert hätte, hätten zurück zur Bucht rennen können und darauf hoffen, ihn in der Dunkelheit zwischen den Bäumen abzuhängen. Eine schwache Hoffnung, aber immerhin Hoffnung. Hier wenden wir den Wachhäuschen den Rücken zu und ich komme mir vor wie ein riesiges bewegliches Ziel mit einem großen Schild auf dem Rücken, auf dem ERSCHIESS MICH steht.
    Alex ist vor mir oben und bahnt sich langsam und vorsichtig einen Weg über die Schleifen aus Stacheldraht. Dann lässt er sich behutsam auf die andere Seite gleiten, klettert ein Stück hinunter und hält an, um auf mich zu warten. Ich mache es genau wie er. Jetzt zittere ich vor Angst und Anstrengung, aber es gelingt mir, über die Oberkante des Zauns zu steigen, und dann klettere ich auf der anderen Seite hinab. Meine Füße kommen auf dem Boden auf. Alex nimmt meine Hand und zieht mich schnell in den Wald, weg von der Grenze.
    In die Wildnis.

a chtzehn
    Mary, vergiss nicht deinen Schirm –
    Auch wenn der Himmel ist strahlend blau,
    Regnet es Asche auf Dächer und Türm’
    Und färbt deine Haare ganz grau.
    Mary, halt dein Ruder fest.
    Segle hinfort auf der steigenden Flut.
    Pass auf, dass der Wind nicht die Kerze ausbläst,
    Die rote Tide ist vielleicht Blut.
    Â»Miss Mary« (verbreitetes Kinder-Klatschspiel
aus der Zeit der Offensive), aus:
Pattycake und die Folgen. Eine Geschichte des Spiels
    D ie Lichter des Wachhäuschens werden ganz plötzlich weggesaugt, als wären sie in einer Krypta verschlossen worden. Um uns herum rücken Bäume näher, Blätter und Büsche drängen von allen Seiten auf mich ein, streifen über mein Gesicht, meine Schienbeine und meine Schultern wie Tausende dunkler Hände, und überall um mich herum setzt ein seltsamer Lärm ein, aus flatternden Wesen, schreienden Eulen und Tieren, die durchs Unterholz krabbeln. Die Luft riecht so stark nach Blumen und Leben, dass es sich anfühlt, als wäre sie etwas Massives, wie ein Vorhang, den man zur Seite ziehen könnte. Es ist stockdunkel. Ich kann noch nicht mal Alex vor mir sehen, spüre nur seine Hand in meiner, die mich hinter sich herzieht.
    Ich glaube, ich habe sogar noch größere Angst als vorhin und ich rucke an Alex’ Hand, damit er anhält.
    Â»Noch ein Stück«, ertönt seine Stimme aus der Dunkelheit vor mir. Er zieht mich weiter. Wir gehen allerdings langsam und ich höre zerbrechende Zweige und das Rascheln von Blättern und weiß, dass Alex sich vortastet und versucht, einen Pfad für uns freizulegen. Es kommt mir vor, als ginge es nur in Zentimeterschritten vorwärts, aber es ist erstaunlich, wie schnell die Grenze und alles jenseits davon zurückbleibt, als hätte es nie existiert. Hinter mir ist Schwärze. Als wäre man unter der Erde.
    Â»Alex …«, hebe ich an. Meine Stimme klingt eigenartig und erstickt.
    Â»Halt«, sagt er. »Warte.« Er lässt meine Hand los und ich

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