Delirium
vorstellen können.
Keine Mauern. Nirgendwo Mauern. Portland kommt mir im Vergleich dazu winzig vor, ein kleiner Fleck.
Alex bleibt vor einem schäbigen grauen Wohnwagen stehen. In den Fensteröffnungen hängen fest gespannte Quadrate aus buntem Stoff.
»Und, äh, hier wohne ich.« Alex macht eine verlegene Geste. Es ist das erste Mal in dieser Nacht, dass er nervös wirkt, was wiederum mich nervös macht. Ich unterdrücke den plötzlichen und völlig unangebrachten Drang, hysterisch zu lachen.
»Wow. Es ist ⦠es ist â¦Â«
»Von auÃen macht es nicht viel her«, unterbricht er mich. Er sieht weg und kaut auf seiner Unterlippe. »Möchtest du, äh, reinkommen?«
Ich nicke, ziemlich sicher, dass ich wieder nur quieken würde, wenn ich jetzt versuchte zu sprechen. Ich bin schon unzählige Male mit ihm allein gewesen, aber das hier fühlt sich anders an. Hier gibt es keine Augen, die darauf warten, uns zu erwischen, keine Stimmen, die darauf warten, uns anzuschreien, keine Hände, die bereit sind, uns auseinanderzureiÃen â nur meilenweit Raum. Es ist gleichzeitig aufregend und unheimlich. Hier wäre alles möglich, und als er sich runterbeugt, um mich zu küssen, ist es, als ob in meiner Brust das Gewicht der samtigen Dunkelheit um uns herum klopft und das sanfte Flattern der Bäume, das Trippel-Trappel der unsichtbaren Tiere. Es gibt mir das Gefühl, als würde ich mich in der Nacht auflösen und zerflieÃen. Als er sich von mir löst, dauert es ein paar Sekunden, bis ich wieder zu Atem komme.
»Komm«, sagt er. Er drückt mit einer Schulter gegen die Tür des Wohnwagens und sie springt auf.
Drinnen ist es sehr dunkel. Ich kann nur ein paar grobe Umrisse erkennen, und als Alex die Tür hinter uns schlieÃt, verschwinden auch diese wieder, werden von der Schwärze aufgesogen.
»Hier drauÃen gibt es keinen Strom«, sagt Alex. Er kramt herum, stöÃt gegen Dinge und flucht jedes Mal leise.
»Hast du Kerzen?«, frage ich. Im Wohnwagen riecht es eigenartig wie nach Herbstblättern, die von den Ãsten gefallen sind. Es riecht gut. Es gibt auch andere Gerüche â den stechenden Zitronenduft von Reinigungsmittel und einen ganz leichten Hauch von Benzin.
»Was Besseres.« Es raschelt und kleine Ãste und ein paar Blätter fallen von oben auf mich herab. Ich stoÃe einen kleinen Schrei aus und Alex sagt: »Tut mir leid, tut mir leid. Ich bin schon länger nicht mehr hier gewesen. Pass auf.« Wieder Rascheln. Und dann zittert die Decke über mir langsam und faltet sich auf, und plötzlich kommt der Himmel in all seiner Unendlichkeit zum Vorschein. Der Mond steht beinahe direkt über uns, scheint in den Wohnwagen und überzieht alles mit Silber. Die »Decke« ist in Wirklichkeit eine riesige Plastikplane, wie zum Abdecken eines Grills, nur gröÃer. Alex steht auf einem Stuhl und schiebt sie zurück, und mit jedem Zentimeter kommt mehr Himmel zum Vorschein und alles im Inneren scheint nur noch heller zu leuchten.
Ich halte den Atem an. »Wie schön!«
Alex wirft mir einen Blick über die Schulter zu und grinst. Er faltet weiter die Plane zusammen, hält immer wieder inne, schiebt seinen Stuhl vor und macht weiter. »Einmal hat ein Sturm das halbe Dach weggerissen. Ich war zum Glück nicht hier.« Er leuchtet auch, seine Arme und Schultern sind ebenfalls wie von Silber überzogen. Genau wie in der Nacht der Razzia muss ich an die Bilder in der Kirche denken, auf denen die Engel ihre Flügel ausbreiten. »Da habe ich beschlossen, ich könnte es auch gleich ganz abnehmen.« Er ist fertig mit der Plane, springt geschmeidig vom Stuhl und dreht sich lächelnd zu mir um. »Jetzt habe ich mein eigenes Cabrio-Haus.«
»Unglaublich«, sage ich und meine es auch so. Der Himmel sieht so nah aus. Es kommt mir vor, als könnte ich die Hand ausstrecken und dem Mond einen Klaps geben.
»Jetzt hole ich die Kerzen.« Alex saust an mir vorbei in den Küchenbereich und fängt an herumzukramen. Ich kann jetzt die gröÃeren Sachen erkennen, obwohl die Einzelheiten immer noch in der Dunkelheit verborgen sind. In einer Ecke steht ein kleiner Holzofen. Am gegenüberliegenden Ende ist ein Bett. Mein Magen macht einen kleinen Satz, als ich es erblicke, und sofort überkommen mich tausend Erinnerungen â wie Carol auf meiner
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