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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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an sich, wie ein tiefer Schnitt in der Erdoberfläche.
    Diesmal folgen wir einem ziemlich ausgetretenen Pfad. Die Bäume sind in bestimmten Abständen immer noch mit blauer Farbe gekennzeichnet, aber es macht nicht den Eindruck, als brauchte Alex sie zur Orientierung. Wir gehen schnell hintereinanderher. Die Bäume sind zur Seite gedrängt worden und das Unterholz ist weitgehend gesäubert, so dass man hier viel besser vorankommt. Die Erde unter meinen Füßen ist vom Druck vieler Schritte mit der Zeit platt getreten worden. Mein Herz beginnt kräftig gegen meine Rippen zu hämmern. Ich merke, dass wir uns dem Ziel nähern.
    Alex dreht sich so plötzlich zu mir um, dass ich ihn beinahe umrenne. Er schaltet die Taschenlampe aus und in der plötzlichen Dunkelheit scheinen eigenartige Formen aufzusteigen, Gestalt anzunehmen, davonzutrudeln.
    Â»Mach die Augen zu«, sagt er und ich merke, wie er lächelt.
    Â»Warum? Ich sehe sowieso nichts.«
    Ich kann fast hören, wie er die Augen verdreht. »Komm schon, Lena.«
    Â»Na gut.« Ich schließe die Augen und er fasst mich an den Händen. Dann zieht er mich noch etwa fünf Meter weiter, wobei er Dinge murmelt wie: »Fuß hoch. Da ist ein Stein.« Oder: »Ein bisschen nach links.« Die ganze Zeit baut sich ein flatterndes nervöses Gefühl in mir auf. Schließlich bleiben wir stehen und Alex lässt meine Hände los.
    Â»Wir sind da«, sagt er. Ich kann die Aufregung in seiner Stimme hören. »Augen auf.«
    Ich tue, was er sagt, und einen Moment kann ich nicht sprechen. Ich klappe mehrmals den Mund auf und muss ihn wieder schließen, nachdem nichts weiter herauskommt als ein hohes Quieken.
    Â»Und?« Alex zappelt neben mir herum. »Was sagst du?«
    Schließlich stottere ich: »Das … das gibt es wirklich .«
    Alex schnaubt. »Natürlich gibt es das wirklich.«
    Â»Ich meine, es ist unglaublich.« Ich trete ein paar Schritte vor. Jetzt, wo ich hier bin, weiß ich nicht genau, wie ich es mir in der Wildnis vorgestellt habe – aber egal wie, so bestimmt nicht. Eine lang gestreckte, breite Lichtung durchschneidet den Wald, obwohl sich die Bäume an einigen Stellen schon langsam wieder vordrängen und schlanke Stämme in den Himmel strecken, der sich über uns ausdehnt, ein weiter und glitzernder Baldachin, in dessen Mitte hell und riesig der Mond hockt. Wildrosen schlingen sich um ein verbeultes Schild, das fast bis zur Unleserlichkeit verblasst ist. Ich kann gerade so die Wörter Wohnwagenpark Crest Village erkennen. Auf der Lichtung stehen Dutzende Wohnwagen neben einigen kreativeren Unterkünften: Planen, die zwischen Bäumen gespannt sind, mit Decken und Duschvorhängen als Eingangstüren; rostige Lastwagen mit Zelten, die am Führerhaus befestigt sind; alte Kleinbusse mit Stoff vor den Fenstern, damit niemand hineinsehen kann. Überall auf der Lichtung sind Löcher, in denen den Tag über Lagerfeuer gebrannt haben – jetzt, weit nach Mitternacht, schwelen sie immer noch und lassen Rauchfahnen und den Geruch nach verkohltem Holz aufsteigen.
    Â»Siehst du?« Alex grinst und breitet die Arme aus. »Die Offensive hat nicht alles erwischt.«
    Â»Das hast du mir nicht erzählt.« Ich gehe auf die Mitte der Lichtung zu und steige dabei über eine Reihe von Balken hinweg, die im Kreis angeordnet sind wie in einem Wohnzimmer unter freiem Himmel. »Du hast mir nicht erzählt, dass es so ist.«
    Er zuckt mit den Schultern und kommt neben mich getrottet wie ein glücklicher Hund. »Das hier muss man mit eigenen Augen sehen.« Er kickt mit dem Zeh etwas Erde über ein erlöschendes Lagerfeuer. »Sieht so aus, als wären wir zu spät zur Party gekommen.«
    Wir gehen über die Lichtung und Alex zeigt mir jedes »Haus« und erzählt mir ein bisschen was über die Leute, die dort wohnen, wobei er die ganze Zeit flüstert, damit wir niemanden wecken. Manche Geschichten kenne ich schon; andere sind mir völlig neu. Ich konzentriere mich noch gar nicht mal ganz auf das, was er sagt, aber ich bin dankbar für den Klang seiner Stimme, leise, fest, vertraut und beruhigend. Obwohl die Siedlung gar nicht so groß ist – vielleicht zweihundert Meter lang –, habe ich das Gefühl, die Welt hätte sich plötzlich geöffnet und enthüllte Schichten und Tiefen, die ich mir nie hätte

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