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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Bettkante sitzt und mit gemessenen Worten darüber spricht, was von Eheleuten erwartet wird; Jenny, die die Hand in die Hüfte stemmt und erklärt, ich würde ja doch nicht wissen, was ich tun müsste, wenn es so weit wäre; geflüsterte Geschichten über Willow Marks; Hana, die sich mit lauter Stimme in der Umkleidekabine fragt, wie sich wohl Sex anfühlt, während ich sie anzische, leise zu sein, und mich umsehe, um sicherzugehen, dass niemand zugehört hat.
    Alex findet ein Bündel Kerzen und fängt an, sie eine nach der anderen anzuzünden. Die Ecken des Raumes werden beleuchtet, als er die Kerzen vorsichtig im Wohnwagen verteilt. Was mir am meisten auffällt, sind die Bücher: Unregelmäßige Umrisse, die im Halbdunkel wie Möbel aussahen, werden jetzt zu hohen Bücherstapeln – mehr Bücher, als ich je irgendwo gesehen habe, außer in der Bücherei. Drei Bücherregale stehen an der Wand. Sogar der Kühlschrank, dessen Tür fehlt, ist mit Büchern gefüllt.
    Ich nehme eine Kerze und sehe mir die Titel an. Ich kenne keinen einzigen.
    Â»Was ist das?« Einige der Bücher sehen so alt und brüchig aus, dass ich Angst habe, sie könnten zerfallen, wenn ich sie berühre. Ich sage die Namen vor mich hin, die ich auf den Rücken lese, zumindest die, die ich erkennen kann: Emily Dickinson, Walt Whitman, William Wordsworth.
    Alex sieht mich an. »Das ist Lyrik«, sagt er.
    Â»Was ist Lyrik?« Das Wort habe ich noch nie gehört, aber der Klang gefällt mir. Es klingt elegant und irgendwie leicht, ich denke an eine schöne Frau, die sich in einem langen Kleid dreht.
    Alex zündet die letzte Kerze an. Jetzt ist der Wohnwagen mit warmem, flackerndem Licht angefüllt. Er kommt zu mir zum Bücherregal, geht in die Hocke und sucht etwas. Dann nimmt er ein Buch heraus, steht wieder auf und zeigt es mir.
    Berühmte Liebesgedichte. Mein Magen macht einen Satz, als ich dieses Wort – Liebe – einfach so, unkommentiert auf einen Buchumschlag gedruckt sehe. Alex beobachtet mich genau, und um mein Unbehagen zu überspielen, klappe ich das Buch auf und überfliege die Liste der Autoren auf der ersten Seite.
    Â»Shakespeare?« Diesen Namen kenne ich aus dem Gesundheitsunterricht. »Der Typ, der Romeo und Julia geschrieben hat? Das Lehrstück?«
    Alex schnaubt. »Das ist kein Lehrstück«, sagt er. »Sondern eine großartige Liebesgeschichte.«
    Ich muss an meinen ersten Tag in den Labors denken, als ich Alex zum ersten Mal gesehen habe. Es kommt mir vor, als wäre das ein ganzes Leben her. Ich erinnere mich, wie mein Bewusstsein das Wort schön hervorgebracht hat. Ich erinnere mich daran, wie ich etwas über Opfer gedacht habe.
    Â»Sie haben die Lyrik schon vor Jahren verboten, direkt nachdem sie das Heilmittel entdeckt hatten.« Er nimmt mir das Buch wieder ab und schlägt es auf. »Soll ich dir ein Gedicht vorlesen?«
    Ich nicke. Er hustet, dann räuspert er sich, strafft die Schultern und lässt den Kopf kreisen, als würde er gleich bei einem Fußballspiel eingewechselt.
    Â»Mach schon«, sage ich lachend. »Du hältst mich nur hin.«
    Er räuspert sich erneut und fängt an zu lesen: »›Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?‹«
    Ich schließe die Augen und höre zu. Das Gefühl, von Wärme umgeben zu sein, das ich vorher schon hatte, schwillt und steigt in mir auf wie eine Welle. Lyrik ist mit nichts zu vergleichen, das ich je gehört habe. Ich verstehe nicht alles, nur Bruchstücke von Bildern, Sätze, die unvollständig scheinen, aber mit den anderen zusammen flattern wie leuchtend bunte Bänder im Wind. Mir fällt auf, dass es mich an die Musik erinnert, die mir vor fast zwei Monaten auf der Farm die Sprache verschlagen hat. Es hat denselben Effekt, es macht mich euphorisch und traurig zugleich.
    Alex hört auf zu lesen. Als ich die Augen öffne, starrt er mich an.
    Â»Was ist?«, frage ich. Die Intensität seines Blicks raubt mir beinahe den Atem – als würde er mitten in mich hineinstarren.
    Er antwortet mir nicht direkt. Er blättert ein paar Seiten in dem Buch vor, aber er sieht es nicht an. Er hält den Blick die ganze Zeit auf mich gerichtet. »Willst du noch eins hören?« Er wartet meine Antwort nicht ab, bevor er zu rezitieren beginnt: »›Wie ich dich liebe? Lass mich zählen

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