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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Muskeln gleichzeitig. Jedes Mal, wenn ich mit meinem linken Bein auf dem Asphalt aufkomme, zucke ich zusammen. So ist es immer zwischen dem dritten und fünften Kilometer, als würden sich die ganze Anstrengung, Nervosität, Gereiztheit und Angst in kleine Nadelstiche körperlichen Schmerzes verwandeln, und man kann nicht atmen oder sich vorstellen, noch weiter zu laufen, und nichts weiter denken als: Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.
    Und dann ist es genauso plötzlich weg. Der ganze Schmerz verschwindet, der Oberschenkel ist wieder locker, die Faust entlässt meine Brust aus ihrer Umklammerung und das Atmen fällt mir leicht. Augenblicklich steigt ein absolutes Glücksgefühl in mir auf: der feste Boden unter mir, die Einfachheit der Bewegung, wie ich mich abstoße, in Zeit und Raum vorwärtsdränge, völlige Freiheit und Entspannung. Ich werfe einen Blick zu Hana hinüber. An ihrem Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass sie dasselbe verspürt. Sie hat die Mauer ebenfalls durchbrochen. Sie spürt, dass ich sie ansehe, dreht sich mit ihrem wippenden Pferdeschwanz, der einen leuchtenden Bogen bildet, zu mir um und reckt mir den Daumen entgegen.
    Es ist seltsam. Beim Laufen fühle ich mich Hana näher als sonst. Selbst wenn wir nicht reden, scheint uns ein unsichtbares Band zu verbinden, das unseren Rhythmus, unsere Arme und Beine in Einklang bringt, als reagierten wir beide auf dieselben Trommelschläge. Es wird mir immer bewusster, dass sich das nach dem Eingriff ebenfalls ändern wird. Sie wird ins West End ziehen und sich dort mit ihren Nachbarn anfreunden, mit reicheren und kultivierteren Leuten als ich. Ich werde in irgendeiner schäbigen Wohnung in der Cumberland Street bleiben und Hana nicht vermissen oder mich auch nur daran erinnern, wie es war, wenn wir nebeneinander herliefen. Man hat mich gewarnt, dass mir das Laufen nach dem Eingriff vielleicht keinen Spaß mehr macht. Eine weitere Nebenwirkung des Heilmittels: Die Leute verändern oft ihre Gewohnheiten, verlieren das Interesse an ihren früheren Hobbys und Sachen, die ihnen Freude bereitet haben.
    Â»Die Geheilten, zu starkem Verlangen unfähig, sind dadurch von Schmerzen sowohl in der Erinnerung als auch in der Zukunft befreit« ( Das Buch Psst, »Nach dem Eingriff«, S.132).
    Die Welt rast vorbei, Menschen und Straßen in einem langen Band aus Farben und Klängen. Wir laufen an der St.-Vincent-Schule vorbei, der größten reinen Jungenschule Portlands. Fünf, sechs Jungen spielen draußen Basketball, dribbeln den Ball träge herum, rufen sich etwas zu. Ihre Worte sind verschwommen, eine undeutliche Abfolge von Rufen und Brüllen und vereinzelt aufbrandendem Gelächter, so wie Jungen immer klingen, wenn sie in Gruppen zusammen sind und man sie nur hinter einer Ecke, auf der anderen Straßenseite oder unten am Strand hört. Es ist, als hätten sie eine eigene Sprache, und ungefähr zum tausendsten Mal denke ich, wie froh ich bin, dass wir auf Grund der Regeln zur Geschlechtertrennung nur wenig miteinander zu tun haben.
    Als wir an ihnen vorbeilaufen, meine ich ein kurzes Innehalten wahrzunehmen, einen Sekundenbruchteil, in dem alle den Blick heben und ihn uns zuwenden. Ich bin zu verlegen, um zu gucken. Mein gesamter Körper wird weiß vor Hitze, als hätte mich jemand gerade kopfüber in einen Ofen gesteckt. Aber einen Augenblick später spüre ich, wie ihre Blicke über mich hinwegstreichen wie ein Windhauch und an Hana hängenbleiben. Ihr blondes Haar blitzt neben mir auf wie eine Münze in der Sonne.
    Der Schmerz kehrt in meine Beine zurück, sie fühlen sich bleischwer an, aber ich zwinge mich dazu, weiterzulaufen, als wir in die Commercial Street einbiegen und die St.-Vincent-Schule hinter uns lassen. Ich merke, wie Hana sich anstrengt, mit mir mitzuhalten. Ich wende den Kopf und stoße mit Mühe hervor: »Wer zuerst da ist!« Aber als Hana mit schwingenden Armen gleichzieht und mich beinahe überholt, senke ich den Kopf und presche vorwärts, rotiere so schnell ich kann mit den Beinen, versuche Luft in meine Lunge zu saugen, die sich anfühlt, als wäre sie zur Größe einer Erbse geschrumpft, und kämpfe gegen die Rebellion meiner Muskeln an. Mein Gesichtsfeld ist schwarz eingerahmt und alles, was ich sehen kann, ist der Maschendrahtzaun, der plötzlich vor uns aufragt und uns den Weg versperrt, und dann

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