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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Arbeitsplatte – alles war, was übrig blieb, jetzt, wo meine Mutter nicht mehr da war.
    Hier konnte ich nicht bleiben. Ich konnte den Anblick der Küche meiner Tante nicht ertragen, nachdem ich begriffen hatte, dass es auch meine Küche sein würde. Ich konnte die Götterspeise nicht ertragen. Meine Mutter hatte Götterspeise verabscheut . In meinem Körper breitete sich ein Kribbeln aus, als schwirrten tausend Mücken durch mein Blut und stächen mich von innen, und ich wollte am liebsten schreien, springen und mich winden.
    Ich rannte los.
    Hana hat einen Fuß auf die Bank gestellt und bindet sich die Schuhe, als ich hereinkomme. Mein schreckliches Geheimnis ist, dass ich zum Teil deswegen gerne mit Hana laufe, weil es das einzige, alleinige, ausschließliche kleine bisschen ist, das ich besser kann als sie, aber das würde ich niemals im Leben offen zugeben.
    Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, meine Tasche abzustellen, als sie sich schon vorbeugt und mich am Arm packt.
    Â»Ist das nicht unglaublich?« Sie kämpft gegen ein Lächeln an und ihre Augen sind ein Farbenrad – blau, grün, gold – und blitzen wie immer, wenn sie aufgeregt ist. »Das waren bestimmt die Invaliden. Zumindest sagen das alle.«
    Wir sind allein in der Umkleidekabine – die Saison ist für alle Sportmannschaften vorbei –, aber unwillkürlich drehe ich den Kopf. »Nicht so laut.«
    Sie richtet sich ein wenig auf und wirft die Haare über eine Schulter. »Keine Panik. Ich hab mich umgesehen. Hab sogar in alle Toilettenkabinen geguckt. Die Luft ist rein.«
    Ich schließe den Spind auf, den ich in all den zehn Jahren hier in der St.-Anne-Schule hatte. Auf dem Boden liegt eine Schicht aus Kaugummipapier, zerknitterten Zetteln und Büroklammern, und darauf mein kleiner schlaffer Stapel Laufklamotten, zwei Paar Schuhe, das Trikot der Crosslaufmannschaft, ein Dutzend halb leerer Flaschen Deo, Haarspülung und Parfüm. In weniger als zwei Wochen mache ich meinen Schulabschluss und werde das Innere dieses Schließfachs nie wiedersehen, und einen Augenblick lang macht mich das traurig. Es ist eklig, aber ich mochte den Turnhallengeruch eigentlich immer: den Industriereiniger, das Deo, die Fußbälle und sogar den ständigen Schweißgeruch. Ich finde ihn tröstlich. Es ist komisch, wie das Leben funktioniert. Man will etwas und wartet und wartet und es kommt einem ewig vor, bis es eintritt. Dann ist es so weit und es geht vorbei und dann möchte man nichts lieber, als sich in den Moment zurückzuziehen, bevor sich die Dinge verändert haben.
    Â»Wer sind denn bitte alle? In den Nachrichten heißt es, es sei ein Versehen gewesen, ein Lieferfehler oder so was.« Ich verspüre das Bedürfnis, die offizielle Version zu wiederholen, obwohl ich genauso gut wie Hana weiß, dass das nichts als Blödsinn ist.
    Sie setzt sich breitbeinig auf die Bank und sieht mich an. Wie üblich ignoriert sie die Tatsache, dass ich es nicht leiden kann, wenn andere Leute mir beim Umziehen zugucken. »Stell dich nicht dümmer, als du bist. Wenn es in den Nachrichten kam, ist es garantiert nicht wahr. Und außerdem, wer verwechselt bitte eine Kuh mit einer Schachtel verschreibungspflichtiger Medikamente? So schwer ist es ja wohl nicht, den Unterschied festzustellen.«
    Ich zucke mit den Schultern. Sie hat natürlich Recht. Sie sieht mich immer noch an, deshalb wende ich mich etwas ab. Ich fühle mich nicht so wohl in meinem Körper wie Hana und einige der anderen Mädchen an der Schule, bin das unangenehme Gefühl nie losgeworden, dass ich an den entscheidenden Stellen irgendwie falsch zusammengesetzt worden bin. Als hätte mich ein Amateurkünstler entworfen. Wenn man nicht genau drauf achtet, ist es okay, aber sobald man näher hinsieht, stechen einem all die Flecken und Fehler deutlich ins Auge.
    Hana streckt ein Bein aus und fängt an sich zu dehnen, doch sie scheint noch nicht bereit, das Thema fallenzulassen. Hana ist so fasziniert von der Wildnis wie niemand sonst, den ich kenne. »Wenn man mal darüber nachdenkt, ist das ganz schön beeindruckend. Die Planung und alles. Es waren doch mindestens vier oder fünf Leute nötig – vielleicht sogar mehr –, um das alles zu koordinieren.«
    Ich muss kurz an den Jungen denken, den ich auf der Tribüne gesehen habe, an sein leuchtendes herbstblätterfarbenes Haar und

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