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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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durch die Straßen schieben sich Schüler auf dem Nachhauseweg. Ein paar Busse rumpeln vorbei und ein oder zwei Autos zwängen sich durch die Massen. Autos gelten als Glücksbringer. Wenn sie vorbeifahren, strecken die Leute die Hand aus und streichen über die glänzenden Motorhauben, die sauberen Fenster, die bald voller Fingerabdrücke sein werden.
    Hana und ich laufen nebeneinanderher und tauschen die Neuigkeiten des Tages aus. Über die misslungenen Evaluierungen gestern oder die Gerüchte über die Invaliden sprechen wir nicht. Wir sind von zu vielen Leuten umgeben. Stattdessen erzählt sie mir von ihrer Ethikarbeit und ich erzähle ihr von Cora Dervishs Streit mit Minna Wilkinson. Wir sprechen auch über Willow Marks, die seit letztem Mittwoch nicht mehr in der Schule war. Gerüchten zufolge wurde Willow vergangene Woche von Aufsehern während der Ausgangssperre im Deering Oaks Park aufgegriffen – mit einem Jungen.
    Es gibt schon seit Jahren solche Gerüchte über Willow. Sie ist einfach die Art Mensch, über die die Leute reden. Sie hat blonde Haare, färbt sich aber immer einzelne Strähnen mit Filzstiften. Ich kann mich daran erinnern, wie wir in der neunten Klasse bei einem Ausflug ins Museum an einer Gruppe Jungen aus der Spencer-Schule vorbeigingen und sie so laut, dass es unsere Aufsicht leicht hätte hören können, sagte: »Einen von denen würde ich gerne direkt auf den Mund küssen.« Angeblich wurde sie in der Zehnten mit einem Jungen erwischt, kam aber mit einer Verwarnung davon, weil sie keine Symptome der Deliria zeigte. Menschen machen gelegentlich Fehler. Das ist biologisch bedingt, Ergebnis eines chemischen und hormonellen Ungleichgewichts, das gelegentlich auch zu Perversion führen kann, dazu, dass sich Jungen von Jungen und Mädchen von Mädchen angezogen fühlen. Auch diese Triebe werden durch den Eingriff geheilt.
    Aber diesmal scheint es ernst zu sein und gerade als wir auf die Center Street einbiegen, lässt Hana die Bombe platzen: Mr und Mrs Marks haben sich einverstanden erklärt, den Termin für Willows Eingriff ein halbes Jahr vorzuziehen. Sie wird die Abschlussfeier verpassen, um geheilt zu werden.
    Â»Ein halbes Jahr?«, wiederhole ich. Wir laufen schon seit zwanzig Minuten in hohem Tempo, deshalb bin ich mir nicht sicher, ob das starke Hämmern in meiner Brust die Folge der Anstrengung oder der Neuigkeit ist. Ich keuche mehr als eigentlich angebracht, als säße jemand auf meiner Brust. »Ist das nicht gefährlich?«
    Hana weist mit dem Kopf nach rechts zu einer Abkürzung durch eine schmale Gasse. »Das wurde schon öfter gemacht.«
    Â»Ja, aber nicht mit Erfolg. Was ist mit den Nebenwirkungen? Psychische Schwierigkeiten? Blindheit?« Es gibt mehrere Gründe, warum die Wissenschaftler den Eingriff bei keinem unter achtzehn vornehmen, aber der wichtigste ist, dass er bei jüngeren Leuten einfach nicht so gut zu funktionieren scheint und schon zu allen möglichen schwerwiegenden Problemen geführt hat. Die Wissenschaftler vermuten, dass das Gehirn und seine Nervenbahnen vorher noch zu formbar sind, noch immer im Entwicklungsprozess. Je älter man zum Zeitpunkt des Eingriffs ist, desto besser, aber bei den meisten Leuten wird der Termin so bald wie möglich nach dem achtzehnten Geburtstag angesetzt.
    Â»Wahrscheinlich glauben sie, es sei das Risiko wert«, sagt Hana. »Besser als die Alternative, weißt du? Amor deliria nervosa. Die gefährlichste aller Krankheiten. « Das ist der Slogan, der auf allen Broschüren über geistige Gesundheit steht, die je zum Thema Deliria verfasst wurden. Hanas Stimme klingt ausdruckslos, als sie ihn wiederholt. Über den ganzen verrückten Ereignissen gestern habe ich Hanas Bemerkung vor der Evaluierung völlig vergessen. Aber jetzt fällt sie mir wieder ein. Und mir fällt auch ein, wie seltsam sie ausgesehen hat mit diesem trüben, undurchdringlichen Blick.
    Â»Auf geht’s.« Ich spüre ein Ziehen in meiner Lunge und mein linker Oberschenkel verhärtet sich. Die einzige Möglichkeit durchzuhalten ist, schneller und aktiver zu laufen.
    Â»Na, dann zeig mal, was du draufhast.« Hanas Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen und wir geben beide Gas. Der Schmerz in meiner Lunge schwillt an und breitet sich aus, bis es sich anfühlt, als wäre er überall und zöge durch all meine Zellen und

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