Delirium
ist, den ich gestern gesehen habe, darauf würde ich meinen Kopf verwetten.
»Alex. Freut mich, euch kennenzulernen.« Alex wendet den Blick nicht von mir ab, als er Hana die Hand schüttelt. Dann streckt er auch mir die Hand entgegen. »Lena«, sagt er nachdenklich. »Schöner Name.«
Ich zögere. Beim Händeschütteln fühle ich mich immer unbehaglich, als spielte ich in zu groÃen Erwachsenenklamotten Verkleiden. Abgesehen davon habe ich noch nie einen Fremden direkt berührt. Aber er steht einfach weiter mit ausgestreckter Hand da, also hebe ich nach einem Moment den Arm und gebe ihm die Hand. Als wir uns berühren, durchfährt mich ein winziger Stromstoà und ich ziehe meine Hand schnell wieder zurück.
»Das ist die Kurzform von Magdalena«, sage ich.
»Magdalena.« Alex legt den Kopf zurück und sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Hübsch.«
Die Art, wie er meinen Namen sagt, lenkt mich vorübergehend ab. Aus seinem Mund klingt er melodisch, nicht hölzern und kantig, wie meine Lehrer ihn immer aussprechen. Seine Augen haben einen warmen bernsteinfarbenen Ton, und als ich ihn ansehe, blitzt plötzlich eine Erinnerung an meine Mutter auf, die Sirup über einen Stapel Pfannkuchen gieÃt. Beschämt wende ich den Blick ab, als wäre er irgendwie verantwortlich für diese Erinnerung, als hätte er mit seiner Hand in mich hineingegriffen und sie mir entwunden. Die Verlegenheit macht mich wütend und ich dringe weiter in ihn: »Ich kenne dich sehr wohl. Ich habe dich gestern in den Labors gesehen. Du hast auf der Tribüne gestanden und ⦠alles beobachtet.« Mein Mut verlässt mich erneut im letzten Moment und ich sage nicht: mich beobachtet.
Ich spüre Hanas wütenden Blick auf mir, beachte sie jedoch nicht. Sie ist bestimmt sauer, dass ich ihr davon nichts erzählt habe.
Alexâ Gesichtsausdruck verändert sich nicht. Nicht den Bruchteil einer Sekunde blinzelt er oder hört auf zu lächeln. »Das muss eine Verwechslung sein. Wachen dürfen während der Evaluierungen nicht in die Labors. Und Teilzeit-Wachen erst recht nicht.«
Wir stehen noch einen Augenblick da und sehen uns an. Jetzt weià ich genau, dass er lügt, und das sorglose, träge Grinsen auf seinem Gesicht lässt in mir den Wunsch aufsteigen, die Hand auszustrecken und ihm eine runterzuhauen. Ich balle die Hände zu Fäusten und atme tief durch, um die Ruhe zu bewahren. Eigentlich bin ich kein aggressiver Mensch. Ich weià nicht, warum ich so gereizt bin.
Hana mischt sich ein, um die Situation zu entschärfen: »Das ist alles? Ein Teilzeit-Wachmann und ein paar âºBetreten verbotenâ¹-Schilder?«
Alexâ Blick bleibt noch eine halbe Sekunde länger an mir hängen. Dann wendet er sich Hana zu, als bemerkte er sie erst jetzt. »Was meinst du damit?«
»Ich hätte bloà gedacht, dass die Labors besser geschützt sind. Es sieht aus, als wäre es nicht allzu schwer, hier einzudringen.«
Alex hebt die Augenbrauen. »Hast du vor, es auszuprobieren?«
Hana erstarrt und mein Blut wird zu Eis. Sie ist zu weit gegangen. Wenn Alex uns als potenzielle Sympathisantinnen, Unruhestifterinnen oder so was meldet, können wir uns auf monatelange Untersuchungen einstellen â und uns gleich von dem Gedanken verabschieden, bei der Evaluierung anständig abzuschneiden. Ich stelle mir vor, ein ganzes Leben lang Andrew Marcus dabei zusehen zu müssen, wie er mit dem Daumennagel Popel aus seiner Nase angelt, und mir wird übel.
Alex muss unsere Angst spüren, denn er hebt beide Hände. »Keine Panik, war doch nur SpaÃ. Ihr wirkt nicht gerade wie Terroristinnen.« Mir wird bewusst, wie albern wir in unseren kurzen Laufhosen, verschwitzten Tanktops und neonfarbenen Turnschuhen aussehen müssen. Oder ich zumindest. Hana sieht aus wie ein Sportmoden-Model. Ich spüre, wie ich rot anlaufe und eine erneute Welle der Gereiztheit in mir aufsteigt. Kein Wunder, dass die Aufseher sich für die Trennung von Jungen und Mädchen entschieden haben. Andernfalls wäre man ja die ganze Zeit wütend und schüchtern, verwirrt und gereizt â ein Albtraum.
»Das hier ist nur die Ladezone für Warenlieferungen und so was.« Alex zeigt hinter die Reihe aus Lagerhäusern. »Die echten Sicherheitsvorkehrungen fangen erst näher an der Einrichtung an.
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