Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
Haaren, die dieselbe Farbe haben wie Herbstblätter, kurz bevor sie vom Baum fallen.
    Er ist es. Der Junge von gestern, von der Tribüne. Der Invalide.
    Abgesehen davon, dass er offenbar kein Invalide ist. Er trägt Jeans und das blaue kurzärmlige Uniformhemd eines Wachmanns; an seinem Kragen klemmt ein offizieller Regierungsausweis in einer Plastikhülle.
    Â»Da gehe ich mal eben zwei Sekunden weg, um mir noch was zu trinken zu holen« – er zeigt auf die Wasserflasche in seiner Hand –, »und bei meiner Rückkehr finde ich einen ausgereiften Einbruch vor.«
    Ich bin so verwirrt, dass ich mich weder bewegen noch sprechen noch sonst etwas tun kann. Hana glaubt bestimmt, dass ich Angst habe, denn sie meldet sich schnell zu Wort. »Wir sind nicht eingebrochen. Wir haben gar nichts gemacht. Wir waren nur joggen und haben … äh, uns verlaufen.«
    Der Junge verschränkt die Arme vor der Brust und stellt sich auf die Hacken. »Und ihr habt keins der Schilder dort draußen bemerkt, hm? ›Zutritt für Unbefugte verboten‹?«
    Hana sieht weg. Sie ist auch nervös, das kann ich spüren. Hana ist tausendmal selbstbewusster als ich, aber keine von uns ist es gewohnt, im Freien zu stehen und sich mit einem Jungen zu unterhalten, erst recht nicht mit einem jungen Wachmann, und Hana ist anscheinend inzwischen aufgegangen, dass er bereits eine Menge Gründe hat, uns festzunehmen.
    Â»Die müssen wir übersehen haben«, murmelt sie.
    Â»Mh-mhm.« Er hebt die Augenbrauen. Es ist offensichtlich, dass er uns nicht glaubt, aber zumindest wirkt er nicht verärgert. »Sie sind auch ziemlich unscheinbar. Da hängen nur ein paar Dutzend. Ich kann schon verstehen, dass ihr sie nicht bemerkt habt.«
    Er sieht einen Augenblick blinzelnd zur Seite und ich habe das Gefühl, dass er sich ein Lachen verkneift. Er ähnelt keinem der Wachleute, die ich bisher gesehen habe – zumindest nicht den typischen Wachen an der Grenze und rund um Portland, die alle fett, mürrisch und alt sind. Ich muss daran denken, wie sicher ich gestern war, dass er aus der Wildnis kommt, an diese feste Gewissheit in meinem tiefsten Innern.
    Aber ich habe mich geirrt. Als er den Kopf wendet, sehe ich das unverwechselbare Zeichen eines Geheilten: das Mal des Eingriffs, eine dreizackige Narbe direkt hinter dem linken Ohr, wo die Wissenschaftler eine Spezialnadel mit drei Spitzen einführen, die nur dazu dient, den Patienten ruhigzustellen, damit der Eingriff durchgeführt werden kann. Die Leute tragen ihre Narben wie Ehrenabzeichen. Man sieht kaum Geheilte mit langen Haaren, und die Frauen, die ihr Haar nicht ganz kurz geschnitten haben, binden es sorgfältig zurück.
    Meine Angst lässt nach. Sich mit einem Geheilten zu unterhalten ist nicht illegal. Das fällt nicht unter die Geschlechtertrennung.
    Ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkannt hat oder nicht. Wenn ja, lässt er es sich nicht anmerken. Schließlich kann ich mich nicht länger zurückhalten und platze heraus: »Du. Ich hab dich gestern …« Doch ich bin nicht in der Lage, den Satz zu beenden. Ich hab dich gestern gesehen. Du hast mir zugeblinzelt.
    Hana sieht erschrocken aus. »Ihr kennt euch?« Sie wirft mir einen Blick zu. Hana weiß, dass ich bisher kaum zwei Worte mit einem Jungen gewechselt habe, abgesehen von »Dürfte ich bitte mal vorbei« auf der Straße oder »Entschuldige, dass ich dir auf den Fuß getreten bin«, wenn ich mit jemandem zusammenstoße. Wir dürfen mit ungeheilten Jungen außerhalb unserer eigenen Familie nur den allernötigsten Kontakt haben. Selbst nachdem sie geheilt sind, gibt es kaum einen Anlass oder Grund dazu, außer wenn wir mit einem Arzt oder Lehrer oder so jemandem zu tun haben.
    Er wendet sich mir zu. Sein Gesichtsausdruck ist vollkommen professionell und beherrscht, aber ich schwöre, dass ich etwas in seinen Augen aufblitzen sehe, einen amüsierten oder erfreuten Blick. »Nein«, sagt er sanft. »Wir haben uns nie gesehen. Ich bin mir sicher, dass ich mich daran erinnern würde.« Es blitzt erneut in seinen Augen – lacht er über mich?
    Â»Ich bin Hana«, sagt Hana. »Und das ist Lena.« Sie stößt mich mit dem Ellbogen an. Ich weiß, dass ich aussehen muss wie ein Fisch, wie ich so mit offenem Mund dastehe, aber ich bin zu entrüstet, um zu sprechen. Er lügt. Ich weiß, dass er es

Weitere Kostenlose Bücher