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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Richtung Eastern Promenade Park bergauf führt. Hier gibt es Reihen aus langen, metallenen Lagerschuppen. Die Sonne steht hoch am Himmel, bleich und unerbittlich. Ich habe unglaublichen Durst, aber als Alex sich umdreht und mir einen Schluck aus seiner Wasserflasche anbietet, sage ich schnell und zu laut: »Nein, danke.« Der Gedanke, mit meinem Mund die Stelle zu berühren, die sein Mund berührt hat, macht mir schon wieder Angst.
    Als wir oben auf dem Berg ankommen – wir sind alle drei ein bisschen außer Atem vom Anstieg –, liegt die Casco Bay rechts von uns ausgebreitet wie auf einer riesigen Landkarte, eine glitzernde, schimmernde Welt aus Blau- und Grüntönen. Hana schnappt nach Luft. Die Aussicht ist wirklich schön, so unverstellt und perfekt. Am Himmel schweben üppige weiße Wolken, die mich an Daunenkissen erinnern, und die Möwen ziehen träge Bogen über dem Wasser, bilden Vogelmuster, die sich gleich wieder auflösen.
    Hana tritt ein paar Schritte vor. »Das ist unglaublich. Wahnsinn, oder? Egal, wie lange ich hier lebe, daran gewöhne ich mich nie.« Sie dreht sich um und sieht mich an. »Ich glaube, so mag ich das Meer am liebsten. Mitten am Nachmittag, sonnig und hell. Genau wie auf einem Foto. Findest du nicht, Lena?«
    Ich bin so entspannt – genieße den Wind, der mir über Arme und Beine streicht und ein kühles und köstliches Gefühl verursacht, genieße die Aussicht und das hoch stehende, blinzelnde Sonnenauge –, dass ich fast vergessen habe, dass Alex bei uns ist. Er ist zurückgeblieben, steht ein Stück hinter uns, und seit wir hier oben sind, hat er kein Wort gesagt.
    Deshalb erschrecke ich fast zu Tode, als er sich vorbeugt und mir ein einzelnes Wort ins Ohr flüstert: »Grau.«
    Â»Was?« Ich wirbele mit klopfendem Herzen herum. Hana hat sich wieder dem Wasser zugewandt und redet weiter davon, wie gerne sie jetzt ihre Kamera dabei hätte und wie man irgendwie nie das dabei hat, was man gerade braucht. Alex steht ganz nah bei mir – so nah, dass ich seine Wimpern einzeln ausmachen kann wie feine Pinselstriche auf einem Ölgemälde – und jetzt tanzt das Licht buchstäblich in seinen Augen, die leuchten, als stünden sie in Flammen.
    Â»Was hast du gesagt?«, wiederhole ich. Meine Stimme ist nur ein krächzendes Flüstern.
    Er lehnt sich noch ein paar Zentimeter näher zu mir. Und es kommt mir vor, als schössen die Flammen aus seinen Augen und setzten meinen ganzen Körper in Brand. Ich war einem Jungen noch nie so nah. Ich fürchte, ich falle gleich in Ohnmacht, und möchte gleichzeitig wegrennen. Aber ich kann mich nicht rühren.
    Â»Ich habe gesagt, ich finde das Meer schöner, wenn es grau ist. Oder nicht richtig grau. Eine blasse Zwischenfarbe. Es ist, wie wenn man darauf wartet, dass etwas Schönes passiert.«
    Er erinnert sich. Er war doch da. Der Boden unter meinen Füßen scheint sich aufzulösen wie in dem Traum von meiner Mutter. Ich kann nichts weiter sehen als seine Augen, das Muster aus Schatten und Licht, das sich darin bewegt.
    Â»Du hast gelogen«, bringe ich heiser hervor. »Warum hast du gelogen?«
    Er antwortet mir nicht und weicht ein kleines Stück zurück. »Noch schöner ist es allerdings bei Sonnenuntergang. Gegen halb neun sieht der Himmel aus, als würde er brennen, vor allem unten bei der Bucht, bei Back Cove. Das solltest du sehen.« Er macht eine Pause und obwohl seine Stimme leise und beiläufig klingt, habe ich das Gefühl, dass er mir etwas Wichtiges mitteilen will. »Heute Abend wird es bestimmt unglaublich.«
    Mein Gehirn setzt sich knirschend in Bewegung und verarbeitet langsam seine Worte, die Art, wie er bestimmte Einzelheiten betont. Dann fällt der Groschen: Er hat mir eine Zeit und einen Ort genannt. Er will sich mit mir treffen. »Willst du damit sagen, wir …?«, hebe ich an, aber genau in diesem Moment kommt Hana zu mir zurückgerannt und packt mich am Arm.
    Â»Mann«, sagt sie lachend. »Kaum zu glauben, aber es ist schon nach fünf. Wir müssen echt los.« Sie zieht mich hinter sich her, bevor ich protestieren kann, und als ich auf die Idee komme, einen Blick über die Schulter zu werfen, um zu schauen, ob Alex hinter uns hersieht oder mir irgendein Zeichen gibt, ist er bereits aus meinem Blickfeld verschwunden.

s e chs
    Mama, Mama, hilf mir heim,
    Bin

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