Delirium
Rund-um-die-Uhr-Bewachung, Kameras, Elektrozaun etc.«
Hana sieht mich nicht an, aber als sie spricht, kann ich hören, wie sich Aufregung in ihre Stimme schleicht. »Die Ladezone? Da, wo die Anlieferungen reinkommen?«
Ich fange in Gedanken an zu beten: Sag bitte nichts Dummes. Sag bitte nichts Dummes. Erwähn bitte nicht die Invaliden.
»Du hastâs erfasst.«
Hana tänzelt herum, verlagert ihr Gewicht von einem Fuà auf den anderen. Ich versuche ihr einen warnenden Blick zuzuwerfen, aber sie weicht mir aus. »Das heiÃt, hier kommen die Lastwagen an? Mit medizinischer Ausrüstung und ⦠und anderen Sachen?«
»Genau.« Ich habe erneut den Eindruck, dass in Alexâ Augen etwas aufblitzt, obwohl sein Gesichtsausdruck ansonsten völlig neutral bleibt. Mir wird bewusst, dass ich ihm nicht traue, und ich frage mich erneut, warum er nicht zugibt, dass er gestern in den Labors war. Vielleicht nur, weil es verboten ist, so wie er gesagt hat. Vielleicht, weil er gelacht hat, anstatt zu helfen.
Oder vielleicht kann es ja doch sein, dass er mich einfach nicht wiedererkennt. Unsere Blicke haben sich nur ein paar Sekunden lang getroffen und ich bin sicher, dass ich für ihn nur ein verschwommenes mittelmäÃiges Gesicht war, das man leicht vergisst. Nicht hübsch. Auch nicht hässlich. Nur unscheinbar wie tausend andere Gesichter, denen man auf der StraÃe begegnet.
Er dagegen ist alles andere als mittelmäÃig. Es ist verrückt, dass ich hier in aller Ãffentlichkeit stehe und mich mit einem fremden Jungen unterhalte, selbst wenn er geheilt ist, und obwohl mir der Kopf schwirrt, kommt es mir vor, als wäre mein Blick messerscharf, und ich nehme alles bis ins kleinste Detail wahr. Mir fällt auf, dass eine seiner Haarsträhnen sich wie ein Rahmen um seine Narbe kringelt; mir fallen seine groÃen braunen Hände auf, seine weiÃen Zähne und die perfekte Symmetrie seines Gesichts. Seine Jeans sind verwaschen und sitzen tief auf seiner Hüfte und die Schnürsenkel in seinen Turnschuhen sind von einem ganz eigenartigen Tintenblau, als hätte er sie mit einem Stift angemalt.
Ich überlege, wie alt er wohl sein mag. Er scheint ungefähr in meinem Alter zu sein, ein bisschen älter, neunzehn vielleicht. Ich überlege auch â ein kurzer, flüchtiger Gedanke â, ob er schon einer Partnerin zugeteilt wurde. Aber natürlich wurde er das. Das muss ja so sein.
Ich habe ihn unwillkürlich angestarrt und plötzlich dreht er sich zu mir um. Ich senke den Blick und verspüre die kurze, irrationale Angst, er könnte meine Gedanken gelesen haben.
»Ich würde mich zu gerne mal umschauen«, deutet Hana wenig subtil an. Ich strecke die Hand aus und kneife sie, als Alex nicht hersieht, woraufhin sie zurückweicht und mir einen schuldbewussten Blick zuwirft. Wenigstens fängt sie nicht an, ihn wegen gestern auszufragen, und bringt uns damit ins Gefängnis oder zu einem Verhör.
Alex wirft seine Wasserflasche hoch und fängt sie mit einer Hand auf. »Glaub mir, hier gibtâs nichts zu sehen. AuÃer du bist ein Fan von Industrie-Abfall. Davon gibtâs âne Menge.« Er weist mit dem Kopf auf die Müllcontainer. »Oh â und die beste Aussicht von ganz Portland auf die Casco Bay. Die haben wir auch zu bieten.«
»Wirklich?« Hana zieht die Nase kraus, vorübergehend von ihrer Detektiv-Mission abgelenkt.
Alex nickt, wirft erneut die Flasche hoch und fängt sie wieder auf. Als sie im hohen Bogen durch die Luft fliegt, blitzt die Sonne kurz im Wasser auf. » Die kann ich euch zeigen«, sagt er. »Kommt mit.«
Ich will bloà weg, aber Hana sagt: »Klar«, also trotte ich hinter ihr her und verfluche im Stillen ihre Neugier und Versessenheit auf alles, was mit den Invaliden zu tun hat. Nie wieder werde ich sie unsere Laufstrecke aussuchen lassen. Sie und Alex gehen vor mir und ich schnappe Bruchstücke ihres Gesprächs auf. Ich höre, wie er sagt, er studiere an einem der Colleges, bekomme aber nicht mit, was. Hana erzählt ihm, wir würden bald unseren Schulabschluss machen. Er sagt, er sei neunzehn, sie sagt, wir würden beide in ein paar Monaten achtzehn. Zum Glück sprechen sie nicht über die missglückten Evaluierungen gestern.
Die ZufahrtsstraÃe stöÃt auf eine andere, schmalere StraÃe, die parallel zur Fore Street verläuft und steil
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