Delirium
Gefühl, ich müsste gleich anfangen laut zu schreien oder zu weinen oder alles zu gestehen, wenn sie mich weiter so anstarrt.
SchlieÃlich seufzt sie. »Du denkst immer noch an die Evaluierung, nicht wahr?«
Ich stoÃe die Luft aus und ein Stein fällt mir vom Herzen. »Ja. Wahrscheinlich.« Vorsichtig sehe ich zu ihr auf und sie lächelt ihr kleines, flüchtiges Lächeln.
»Ich weiÃ, es ist frustrierend für dich, die ganze Sache noch mal durchmachen zu müssen. Aber sieh es doch so â das nächste Mal bist du noch besser vorbereitet.«
Ich nicke und versuche erleichtert auszusehen, obwohl ein leises, stechendes Schuldgefühl an mir zu nagen beginnt. Seit heute Morgen habe ich überhaupt nicht mehr an die Evaluierung gedacht, nicht ein einziges Mal. »Ja, du hast Recht.«
»Komm jetzt. Es gibt Essen.« Meine Tante streckt die Hand aus und streicht mir mit einem Finger über die Stirn. Er ist kühl und beruhigend und so schnell verschwunden wie der leiseste Windhauch. Jetzt flammt das Schuldgefühl in mir mit voller Kraft auf und in diesem Moment kann ich nicht glauben, dass ich überhaupt nur darüber nachgedacht habe, zur Bucht runterzufahren. Es ist hundertprozentig das absolut Falsche, und als ich zum Abendessen aufstehe, fühle ich mich rein, schwerelos und glücklich, wie wenn es einem nach langem Fieber wieder besser geht.
Aber während des Essens kehrt meine Neugier â und damit auch mein Zweifel â zurück. Ich kann kaum dem Gespräch folgen. Das Einzige, was ich denken kann, ist: Soll ich? Soll ich nicht? Soll ich? Soll ich nicht? Einmal erzählt mein Onkel etwas von einem seiner Kunden und ich bemerke, dass alle lachen, also lache ich auch, aber ein bisschen zu laut und zu lang. Alle sehen mich an, sogar Gracie, die die Nase krauszieht und den Kopf schräg legt wie ein Hund, der an etwas Unbekanntem schnuppert.
»Alles in Ordnung, Lena?«, fragt mein Onkel und rückt seine Brille gerade, als hoffte er, mich dadurch klarer sehen zu können. »Du wirkst ein wenig seltsam.«
»Mir gehtâs gut.« Ich schiebe ein paar Ravioli auf meinem Teller hin und her. Normalerweise kann ich allein schon eine halbe Packung verdrücken, vor allem nach einem langen Lauf (und habe trotzdem noch Platz für Nachtisch), aber heute habe ich gerade mal ein paar Bissen heruntergewürgt. »Ich bin nur gestresst.«
»Lass sie in Ruhe«, sagt meine Tante. »Sie macht sich Sorgen wegen der Evaluierung. Die ist ja nicht gerade plangemäà verlaufen.«
Sie sieht meinen Onkel an und die beiden wechseln einen kurzen Blick. Ich bin plötzlich ganz aufgeregt. Es ist ungewöhnlich, dass sich meine Tante und mein Onkel so ansehen, mit einem wortlosen, bedeutungsgeladenen Blick. Meistens beschränkt sich ihr Austausch auf das Ãbliche â mein Onkel erzählt von der Arbeit, meine Tante erzählt von den Nachbarn. Was gibtâs zum Abendessen? Das Dach hat ein Loch. Blablabla. Vielleicht erwähnen sie jetzt endlich mal die Wildnis und die Invaliden. Aber dann schüttelt mein Onkel kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Solche Verwechslungen kommen andauernd vor«, sagt er und spieÃt ein Stück Ravioli auf die Gabel. »Neulich erst habe ich Andrew gebeten, drei Kartons Viks Orangensaft zu bestellen. Aber er vertauscht die Bestellnummern und was meint ihr, was stattdessen geliefert wurde? Drei Kartons Baby-Milchpulver. Ich hab ihm gesagt, âºAndrewâ¹, hab ich gesagt â¦Â«
Ich blende das Gespräch wieder aus, dankbar, dass mein Onkel so gerne redet, und glücklich, dass meine Tante sich für mich eingesetzt hat. Das Gute daran, relativ schüchtern zu sein, ist, dass niemand einen drängt, wenn man mal seine Ruhe haben will. Ich beuge mich vor und werfe einen Blick auf die Küchenuhr. Halb acht und wir sind noch nicht mal fertig mit Essen. Und danach muss ich beim Abräumen und Spülen helfen, was immer ewig dauert; die Spülmaschine verbraucht zu viel Strom, deshalb spülen wir von Hand.
Die Sonne drauÃen ist mit goldenen und rosa Fäden überzogen. Sie sieht aus wie die Zuckerwatte von Sugar Shack in der Innenstadt, ganz glänzend, länglich und bunt. Der Sonnenuntergang heute wird bestimmt wirklich wunderschön. In diesem Augenblick ist der Drang zu gehen so stark, dass ich mich an meinem Stuhl festklammern muss, um nicht plötzlich
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