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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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draußen im Wald, bin ganz allein.
    Ich traf einen Werwolf; mit Zähnen, so groß,
    Ging er auf meine Gedärme los.
    Mama, Mama, hilf mir heim,
    Bin draußen im Wald, bin ganz allein.
    Ich traf einen Vampir; mit Zähnen, so groß,
    Ging er auf meine Kehle los.
    Mama, Mama, bring mich zu Bett,
    Ich schaff’s nicht mehr heim, werd hier sterben im Dreck.
    Ich traf den Invaliden mit einem Lächeln, so groß,
    Ich verfiel seiner Kunst und auf mein Herz ging er los.
    Â»Heimweg eines Kindes«, aus: Kinderreime und Volksmärchen, herausgegeben von Cory Levinson
    A m Abend bin ich ganz zerstreut. Als ich den Tisch decke, gieße ich aus Versehen Wein in Gracies Saftglas und Orangensaft in das Weinglas meines Onkels, und beim Käsereiben bleibe ich so oft mit den Fingerknöcheln an den Zacken der Reibe hängen, dass mich meine Tante schließlich mit den Worten aus der Küche schickt, sie esse ihre Ravioli lieber ohne Hautfetzen. Ich muss immer wieder daran denken, was Alex zuletzt zu mir gesagt hat, und an das endlos sich verändernde Muster in seinen Augen, den eigenartigen Ausdruck in seinem Gesicht – als würde er mich einladen. Gegen halb neun sieht der Himmel aus, als würde er brennen, vor allem unten bei der Bucht, bei Back Cove. Das solltest du sehen …
    Liegt es auch nur ansatzweise im Bereich des Möglichen, dass er mir eine Botschaft übermitteln wollte? Ist es denkbar, dass er sich mit mir verabreden wollte?
    Bei der Vorstellung wird mir ganz schwindelig.
    Außerdem muss ich die ganze Zeit an das eine Wort denken, das er mir unbewegt direkt ins Ohr geflüstert hat: Grau . Er war da; er hat mich gesehen; er hat sich an mich erinnert . So viele Fragen drängen sich gleichzeitig in meinem Kopf. Als hätte sich der Nebel, für den Portland bekannt ist, in mir ausgebreitet und normales, sinnvolles Denken unmöglich gemacht.
    Schließlich fällt meiner Tante auf, dass irgendetwas nicht stimmt. Kurz vor dem Abendessen helfe ich Jenny wie immer bei den Hausaufgaben und frage sie das Einmaleins ab. Wir sitzen auf dem Boden im Wohnzimmer, das direkt neben dem »Esszimmer« liegt (einer Nische, in der kaum ein Tisch und sechs Stühle Platz haben). Ich habe ihr Mathebuch auf den Knien und stelle ihr die Aufgaben, aber mein Gehirn hat sich verselbstständigt und ich bin mit den Gedanken eine Million Kilometer entfernt. Oder besser gesagt, genau fünfeinhalb Kilometer, unten im Marschland von Back Cove. Ich kenne die Entfernung genau, weil es bis dorthin eine gute Laufstrecke ist. Jetzt überschlage ich, wie lange ich mit dem Fahrrad brauchen würde, und gleich darauf verfluche ich mich dafür, das überhaupt zu erwägen.
    Â»Sieben mal acht?«
    Jenny kneift die Lippen zusammen. »Sechsundfünfzig.«
    Â»Neun mal sechs?«
    Â»Zweiundfünfzig.«
    Andererseits gibt es kein Gesetz, das einem verbietet, mit einem Geheilten zu sprechen. Geheilte sind immun. Sie können den Ungeheilten als Mentoren oder Ratgeber dienen. Auch wenn Alex nur ein Jahr älter ist als ich, sind wir durch den Eingriff voneinander getrennt. Er könnte genauso gut mein Großvater sein.
    Â»Sieben mal elf?«
    Â»Siebenundsiebzig.«
    Â»Lena.« Meine Tante ist aus der Küche gekommen, hat sich am Esstisch vorbeigezwängt und steht jetzt hinter Jenny. Ich blinzele zweimal und versuche mich zu konzentrieren. Carols Miene ist besorgt. »Ist irgendwas?«
    Â»Nein.« Ich senke schnell den Blick. Ich hasse es, wenn mich meine Tante so ansieht, als könnte sie alles Schlechte in meiner Seele lesen. Ich habe Schuldgefühle, nur weil ich an einen Jungen gedacht habe, obwohl er geheilt ist. Wenn sie das wüsste, würde sie sagen: Oh, Lena. Sei vorsichtig. Denk dran, was mit deiner Mutter passiert ist. Sie würde sagen: Diese Krankheit liegt einem einfach im Blut. »Warum?«
    Ich hefte den Blick auf den abgetretenen Teppich unter mir. Carol beugt sich vor, schnappt sich Jennys Mathebuch von meinem Schoß und sagt laut mit ihrer klaren, hohen Stimme: »Neun mal sechs ist vierundfünfzig.« Sie klappt das Buch energisch zu. »Nicht zweiundfünfzig, Lena. Ich nehme doch an, du kannst das kleine Einmaleins?«
    Jenny streckt mir die Zunge raus.
    Meine Wangen fangen an zu glühen. »Entschuldige. Ich bin wohl irgendwie … abgelenkt.«
    Kurzes Schweigen. Carols Blick brennt in meinem Nacken. Ich habe das

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