Delirium
Dutzend Taschenlampen, die auf meine Augen gerichtet sind, so dass ich abrupt bremsen muss, eine Hand vors Gesicht halte und beinahe über den Lenker fliege â was eine Katastrophe wäre, weil ich in der Eile vorhin meinen Helm vergessen habe.
»Halt«, bellt die Stimme eines der Aufseher â des Anführers der Patrouille, nehme ich an. »Personenkontrolle.«
Die Aufseher â sowohl Freiwillige als auch offiziell bei der Regierung Angestellte â patrouillieren jede Nacht in Gruppen durch die Stadt, halten Ausschau nach Ungeheilten, die sich nicht an die Ausgangssperre halten, und suchen die StraÃen und (wenn die Vorhänge offen sind) Häuser nach ungenehmigten Aktivitäten ab. Das kann zum Beispiel sein, wenn zwei Ungeheilte sich berühren oder nach Einbruch der Dunkelheit zusammen unterwegs sind â oder sogar zwei Geheilte, die mit »Aktivitäten befasst sind, die auf das Wiederaufleben der Deliria nach dem Eingriff schlieÃen lassen«, wie zu häufigem Umarmen und Küssen. Das passiert zwar selten, aber es kommt durchaus vor.
Die Aufseher berichten direkt an die Regierung und arbeiten eng mit den Wissenschaftlern in den Labors zusammen. Die Aufseher waren dafür verantwortlich, dass meine Mutter zu ihrem dritten Eingriff geschickt wurde; eine Patrouille sah sie eines Nachts nach ihrem zweiten misslungenen Eingriff, wie sie über einem Foto weinte. Sie betrachtete ein Bild meines Vaters und hatte vergessen, die Vorhänge ganz zu schlieÃen. Innerhalb weniger Tage war sie wieder in den Labors.
Normalerweise kann man den Aufsehern leicht aus dem Weg gehen. Man hört sie praktisch auf einen Kilometer Entfernung. Sie haben Walkie-Talkies, um sich mit anderen Patrouille-Einheiten abzusprechen, und das Rauschen der sich ein- und ausschaltenden Funkgeräte klingt, als flöge ein riesiger summender Schwarm Hornissen auf einen zu. Ich habe nur gerade nicht aufgepasst. Während ich mich insgeheim für meine Dummheit verfluche, angele ich mein Portemonnaie aus meiner Hosentasche. Wenigstens habe ich dran gedacht, das einzustecken. Es ist illegal, ohne Personalausweis in Portland unterwegs zu sein. Und das Letzte, was man sich wünscht, ist eine Nacht im Gefängnis zu verbringen, während die da oben versuchen, deine Identität festzustellen.
»Magdalena Ella Haloway«, sage ich und bemühe mich um eine feste Stimme, als ich dem verantwortlichen Aufseher meinen Ausweis reiche. Er hält seine Taschenlampe immer noch auf mein Gesicht gerichtet und zwingt mich dadurch zum Blinzeln, wodurch ich ihn kaum erkennen kann. Er ist groÃ; das ist alles, was ich sehe. GroÃ, dünn, kantig.
»Magdalena Ella Haloway«, wiederholt er. Er dreht meinen Ausweis zwischen seinen langen Fingern und wirft einen Blick auf meinen Identitäts-Code, eine Nummer, die jeder US -Bürger zugeteilt bekommt. Die ersten drei Ziffern stehen für den Staat, die nächsten drei für die Stadt, die folgenden drei für den Familienverband, die letzten für die individuelle Identität. »Und was machst du hier, Magdalena? In weniger als vierzig Minuten beginnt die Ausgangssperre.«
Weniger als vierzig Minuten. Das heiÃt, es ist fast halb neun. Ich verlagere mein Gewicht und gebe mir groÃe Mühe, nicht ungeduldig zu wirken. Viele der Aufseher â vor allem die freiwilligen â sind schlecht bezahlte Stadtbedienstete: Fensterputzer, Gaszähler-Ableser oder Wachleute.
Nachdem ich tief Luft geholt habe, sage ich so unschuldig wie möglich: »Ich wollte noch kurz zur Bucht runterfahren.« Ich gebe mein Bestes, um zu lächeln und leicht beschränkt auszusehen. »Nach dem Abendessen hatte ich so ein Völlegefühl.« Mehr als unbedingt nötig sollte ich nicht lügen. Das bringt mich nur in Schwierigkeiten.
Der leitende Aufseher mustert mich weiterhin, die Taschenlampe auf mein Gesicht gerichtet, meinen Personalausweis in der Hand. Einen Augenblick scheint er zu zögern und ich glaube schon fast, dass er mich gehen lässt, aber dann gibt er meinen Ausweis an einen anderen Aufseher weiter. »Lass den bitte mal durchs SÃS laufen, okay? Stell sicher, dass er gültig ist.«
Mein Herz sackt weg. SÃS ist das Sicherheits-Ãberprüfungs-System, ein Computernetzwerk, in dem alle gültigen Identitäten für jeden Einzelnen im ganzen Land gespeichert sind. Es kann zwanzig bis dreiÃig Minuten
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