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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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aufzuspringen und zur Tür rauszurennen.
    Schließlich nehme ich mir vor, mir keinen weiteren Stress zu machen und es dem Zufall oder Schicksal oder wem auch immer zu überlassen. Wenn ich rechtzeitig mit Essen und Geschirrspülen fertig bin, um es noch nach Back Cove zu schaffen, fahre ich. Wenn nicht, bleibe ich zu Hause. Sobald ich diese Entscheidung getroffen habe, fühle ich mich eine Million Mal besser, und es gelingt mir sogar, noch ein paar Bissen Ravioli runterzukriegen, bevor Jenny (Wunder über Wunder) plötzlich, wenn auch spät, richtig an Tempo zulegt und ihren Teller leer isst und meine Tante verkündet, ich könne abräumen, wenn ich fertig sei.
    Ich stehe auf und fange an, die Teller zu stapeln. Es ist fast acht. Selbst wenn ich es schaffe, das ganze Geschirr in einer Viertelstunde zu spülen – und das ist ziemlich knapp –, wird es schwierig, um halb neun am Strand zu sein. Geschweige denn um neun zurück, wenn die Ausgangssperre für Ungeheilte beginnt.
    Und wenn ich während der Ausgangssperre draußen erwischt werde …
    Eigentlich weiß ich gar nicht, was dann passieren würde. Ich war immer pünktlich zu Hause.
    Gerade als ich mich damit abgefunden habe, dass es keine Möglichkeit gibt, rechtzeitig zur Bucht und wieder zurück zu kommen, tut meine Tante das Undenkbare. Als ich die Hand ausstrecke, um ihren Teller abzuräumen, sagt sie: »Heute musst du das Geschirr nicht spülen, Lena. Das mache ich.«
    Dabei legt sie mir eine Hand auf den Arm. Genau wie vorhin ist die Berührung so flüchtig und kühl wie der Wind.
    Und bevor ich noch über die Folgen nachdenken kann, platze ich heraus: »Ich müsste auch noch schnell zu Hana rüber.«
    Â»Jetzt?« Ein alarmierter – oder misstrauischer? – Ausdruck scheint im Gesicht meiner Tante auf. »Es ist fast acht.«
    Â»Ich weiß. Wir … sie … sie hat ein Lehrbuch, das sie mir noch geben muss. Das ist mir gerade eingefallen.«
    Jetzt richtet sich der misstrauische Ausdruck – er ist auf jeden Fall misstrauisch – auf ihrer Miene häuslich ein und sorgt dafür, dass sie die Augenbrauen zusammenzieht und ihre Lippen aufeinanderpresst. »Ihr habt doch gar nicht die gleichen Fächer. Und deine Abschlussprüfungen sind längst vorbei. So wichtig kann es also nicht sein.«
    Â»Es ist nicht für die Schule.« Ich verdrehe die Augen in dem Versuch, Hanas Lässigkeit zu imitieren, obwohl meine Handflächen schwitzen und mir das Herz in der Brust hämmert. »Es ist eine Art Ratgeber, mit Tipps. Für die Evaluierung. Sie weiß, dass ich mich besser vorbereiten muss, nachdem ich gestern beinahe versagt habe.«
    Meine Tante wirft meinem Onkel erneut einen kurzen Blick zu. »In einer Stunde fängt die Ausgangssperre an«, sagt sie zu mir. »Wenn du dann draußen erwischt wirst …«
    Vor lauter Nervosität flammt Wut in mir auf. »Ich weiß über die Ausgangssperre Bescheid«, fauche ich. »Schließlich musste ich mir das ja nur mein ganzes Leben lang anhören.«
    Im selben Augenblick, als die Wörter ausgesprochen sind, bereue ich sie und ich senke den Blick, um Carol nicht ansehen zu müssen. Ich habe ihr nie widersprochen, habe immer versucht, so geduldig, gehorsam und brav wie möglich zu sein – so unsichtbar wie möglich, ein nettes Mädchen, das beim Spülen und mit den Kindern hilft, die Hausaufgaben macht, gehorcht und nicht aufmuckt. Ich weiß, ich muss Carol dankbar dafür sein, dass sie Rachel und mich nach dem Tod meiner Mutter aufgenommen hat. Wenn sie nicht gewesen wäre, würde ich vermutlich in einem der Waisenhäuser vor mich hin vegetieren, ungebildet, unbemerkt, wahrscheinlich später einen Job in einem Schlachthaus antreten, um dort Schafsinnereien oder Kuhkacke wegzuputzen oder so was. Mit Glück könnte ich vielleicht – vielleicht! – bei einer Reinigungsfirma arbeiten.
    Niemand adoptiert ein Kind, dessen Vergangenheit von der Krankheit befleckt ist.
    Ich wünschte, ich könnte Carols Gedanken lesen. Ich habe keine Ahnung, was sie denkt, aber sie scheint mich zu analysieren, zu versuchen meinen Gesichtsausdruck zu deuten. Ich denke immer wieder: Ich tue nichts Falsches, es ist harmlos, es ist alles in Ordnung mit mir, und wische meine Handflächen hinten an meiner Jeans ab. Bestimmt sieht man dort schon

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