Delirium
es rührt sich nicht vom Fleck. Ich drücke und ziehe am Rahmen.
»Lena«, sagt Hana zaghaft nach einer Weile.
»Es geht nicht auf.« Ich kann nichts weiter denken als: Ich brauche Luft. Der Rest meiner Gedanken ist eine verschwommene Mischung aus rauschenden Funkgeräten, Neonlichtern, Laborkitteln, Stahltischen und OP -Besteck â ein Bild von Willow Marks, die schreiend zu den Labors gezerrt wird, und von ihrem Haus, das mit Filzstiften und Farbe verschandelt ist.
»Lena«, sagt Hana erneut, lauter jetzt. »Komm schon.«
»Es klemmt. Das Holz muss sich von der Hitze verzogen haben. Es geht einfach nicht auf.« Ich stemme mich dagegen und das Fenster saust schlieÃlich nach oben. Ein Knall ist zu hören, als der Riegel abspringt und mitten auf dem Boden landet. Einen Augenblick stehen Hana und ich da und starren ihn an. Die Luft, die durch das offene Fenster hereinströmt, hilft mir auch nicht. DrauÃen ist es noch heiÃer.
»Entschuldigung«, murmele ich. Ich kann Hana nicht ansehen. »Ich wollte nicht ⦠ich wusste nicht, dass es verriegelt war. Die Fenster bei uns zu Hause kann man nicht verriegeln.«
»Mach dir keine Gedanken wegen des Fensters. Das blöde Fenster ist mir egal.«
»Als Grace noch klein war, ist sie mal aus ihrem Gitterbett geklettert und hat es beinahe bis aufs Dach geschafft. Sie hat einfach das Fenster hochgeschoben und ist losgeklettert.«
»Lena.« Hana streckt die Arme aus und fasst mich an den Schultern. Ich weià nicht, ob ich Fieber habe oder was los ist, alle fünf Sekunden wird mir abwechselnd heià und kalt, aber bei ihrer Berührung durchfährt es mich eiskalt und ich zucke schnell zurück. »Du bist sauer auf mich.«
»Ich bin nicht sauer. Ich mache mir Sorgen.« Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich bin doch sauer â wütend sogar. Die ganze Zeit über bin ich blind neben ihr hergetrottet, die dämliche Freundin, habe über unseren letzten gemeinsamen Sommer nachgedacht, mich wegen der Liste mit meinen potenziellen Partnern aufgeregt, wegen der Evaluierungen und Abschlussprüfungen und normalen Sachen, und sie hat die ganze Zeit genickt, gelächelt und gesagt: »Mh-mhm, ja, ich auch«, und: »Bestimmt geht alles gut«, und gleichzeitig hat sie sich hinter meinem Rücken in jemanden verwandelt, den ich nicht kenne â jemanden mit Geheimnissen und seltsamen Gewohnheiten und Meinungen über Dinge, an die wir eigentlich noch nicht mal denken sollten. Jetzt weià ich auch, warum ich mich am Tag der Evaluierung so erschreckt habe, als sie sich zu mir umgedreht hat, um mir mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen etwas zuzuflüstern. Das war, als wäre sie für einen Augenblick verschwunden â meine beste Freundin, meine einzige echte Freundin â und an ihrer Stelle wäre dort eine Fremde.
Genau das ist die ganze Zeit über passiert: Hana hat sich langsam in eine Fremde verwandelt.
Ich drehe mich wieder zum Fenster.
Eine scharfe Klinge aus Traurigkeit durchbohrt mich. Wahrscheinlich wäre es irgendwann sowieso passiert. Ich wusste immer, dass es so kommen würde. Alle, denen du vertraust, alle, von denen du glaubst, du könntest auf sie zählen, enttäuschen dich irgendwann. Wenn man sie sich selbst überlässt, lügen die Menschen, haben Geheimnisse, verändern sich und verschwinden, manche hinter einem anderen Gesicht oder einem anderen Charakter, manche in dichtem Morgennebel hinter einer Klippe. Deshalb ist das Heilmittel so wichtig. Deshalb brauchen wir es.
»Hör zu, ich werde nicht gleich verhaftet, nur weil ich mir ein paar Webseiten angucke. Oder Musik höre oder so was.«
»Das könnte aber passieren. Es sind schon Leute für weniger verhaftet worden.« Das weià sie auch. Sie weià es, aber es ist ihr egal.
»Ja, okay, ich habâs satt.« Hanas Stimme zittert leicht, was mich aus dem Konzept bringt. Ich habe sie noch nie so verletzlich erlebt.
»Wir sollten noch nicht mal darüber reden. Irgendjemand könnte â¦Â«
»Uns zuhören?«, beendet sie den Satz für mich. »Mein Gott, Lena, das hab ich auch satt. Du nicht? Immer aufpassen müssen, sich umdrehen, darauf achten, was man sagt, denkt, tut. Ich kann ⦠ich kann nicht atmen, nicht schlafen, mich nicht bewegen . Ich habe das Gefühl, als wären überall Mauern. Egal, wo ich hingehe â
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