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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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ich sehen kann, wohin ich gehe. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass mir das alles in weniger als zwei Monaten nichtig vorkommen wird. Es wird von mir abfallen und ich werde neu und frei wiederauferstehen wie ein Vogel, der sich in die Lüfte schwingt.
    Und genau das versteht Hana nicht. Für einige von uns geht es um mehr als die Deliria. Einige von uns, die Glücklichen, bekommen die Chance, wiedergeboren zu werden: neuer, frischer, besser. Genesen und wieder ganz und perfekt, wie ein missgestaltetes Stück Eisen, das glühend, glitzernd und messerscharf aus dem Feuer kommt.
    Das ist alles, was ich will – alles, was ich immer wollte. Das ist die Verheißung, die das Heilmittel birgt.

neun
    Herr, halte unsere Herzen fest;
    So, wie du die Planeten in ihrer Umlaufbahn hältst und das Chaos
    ihrer Entstehung kühltest –
    So, wie die Schwerkraft deines Willens Stern um Stern am Bersten hindert,
    Verhindert, dass Meer sich in Staub, Staub sich in Wasser verwandelt,
    Die Planeten vor der Kollision bewahrt,
    Die Sonne vor dem Zerspringen –
    So, Herr, halte auch unsere Herzen fest
    In stetiger Umlaufbahn
    Und führe sie auf dem richtigen Weg.
    Psalm 21
(Aus: »Gebet und Studium«, Das Buch Psst )
    S elbst als ich an diesem Abend im Bett liege, wiederholen sich Hanas Worte endlos in meinem Kopf. Du wirst nicht so enden wie sie. Das steckt nicht in dir. Ich weiß, dass sie das nur gesagt hat, um mich zu trösten – es sollte mich beruhigen, aber aus irgendeinem Grund tut es das nicht. Aus irgendeinem Grund regt es mich auf; in meiner Brust ist ein tiefer Schmerz, als steckte dort ein kaltes, scharfes Messer.
    Es gibt noch etwas, das Hana nicht versteht: meine Gedanken und Sorgen wegen der Krankheit und die Unsicherheit, ob ich eine Veranlagung dazu geerbt habe – das ist alles, was mir von meiner Mutter geblieben ist. Die Krankheit ist das Einzige, was ich von ihr weiß. Es ist das Bindeglied zwischen uns.
    Abgesehen davon habe ich nichts.
    Nicht, dass ich keine Erinnerungen an sie hätte. Die gibt es – sogar eine ganze Menge, dafür, dass ich noch sehr klein war, als sie gestorben ist. Ich erinnere mich, wie sie mich nach draußen schickte, nachdem es gerade frisch geschneit hatte, um Pfannen mit Schnee vollzupacken. Sobald wir wieder drinnen waren, tröpfelten wir Ahornsirup in die schneegefüllten Pfannen und sahen zu, wie er fast augenblicklich zu bernsteinfarbenen Bonbons erstarrte, schleifenförmig und zerbrechlich, zuckrige Filigranarbeiten wie essbare Schnürsenkel. Ich weiß noch, wie gern sie uns etwas vorsang, wenn sie uns am Strand unterhalb des Eastern Promenade Park ins Wasser tauchte. Ich wusste damals nicht, wie seltsam das war. Andere Mütter bringen ihren Kindern auch das Schwimmen bei. Andere Mütter tauchen ihre Babys auch ins Wasser und cremen sie mit Sonnencreme ein und tun all diese Dinge, die eine Mutter laut dem Kapitel über Elternschaft im Buch Psst tun sollte.
    Aber sie singen nicht.
    Ich weiß noch, dass sie mir Teller mit Buttertoast brachte, wenn ich krank war, und mich auf meine Verletzungen küsste, wenn ich hingefallen war. Und ich weiß noch, dass eine Frau einmal, als sie mich aufhob und mich in ihren Armen hin- und herzuwiegen begann, nachdem ich vom Fahrrad gestürzt war, nach Luft schnappte und sagte: »Sie sollten sich schämen«, und ich verstand nicht, warum, und weinte noch mehr. Danach tröstete sie mich nur noch, wenn wir allein waren. In der Öffentlichkeit runzelte sie die Stirn und sagte: »War doch nicht so schlimm, Lena. Steh auf.«
    Wir tanzten auch ausgelassen. Meine Mutter nannte das »Sockenparty«, weil wir die Teppiche im Wohnzimmer aufrollten, unsere dicksten Socken anzogen und dann über die hölzernen Dielen rutschten und schlitterten. Sogar Rachel machte mit, obwohl sie immer betonte, sie sei schon zu alt für Babyspiele. Meine Mutter zog die Vorhänge zu, stopfte Kissen unter die Vorder- und die Hintertür und drehte die Musik auf. Wir mussten so lachen, dass ich jedes Mal Bauchschmerzen hatte, wenn ich ins Bett ging.
    Irgendwann verstand ich, dass sie die Vorhänge an den Sockenpartyabenden zuzog, damit die Patrouillen nicht auf uns aufmerksam wurden, dass sie die Türspalte mit Kissen verstopfte, damit die Nachbarn uns nicht anzeigten, weil wir Musik hörten und zu viel lachten, beides potenzielle Symptome der Deliria. Ich verstand, dass

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