Delirium
benutzte ich bereits den Nachnamen meiner Tante, Tiddle). Ich frage mich, ob sie sich wünscht, sie wäre neben Rebecca Tralawny oder Katie Scarp oder sogar Melissa Portofino gesetzt worden. Manchmal habe ich das Gefühl, sie verdiente eine beste Freundin, die einfach ein bisschen weniger gewöhnlich ist. Hana hat mir mal gesagt, dass sie mich mag, weil ich echt bin â weil ich wirklich etwas fühle. Aber genau das ist ja das Problem: dass ich viel fühle.
»Hallo?«, rufe ich, sobald ich im Haus bin. In der Eingangshalle ist es wie immer dunkel und kühl. Auf meinen Armen bildet sich Gänsehaut. Egal, wie oft ich schon bei Hana war, ich bin immer wieder erstaunt, wie stark die Klimaanlage ist, die irgendwo tief in der Wand summt. Einen Augenblick stehe ich einfach nur da, atme den frischen Geruch nach Möbelpolitur, Fensterputzmittel und frisch geschnittenen Blumen ein. Aus Hanas Zimmer oben dringt Musik. Ich versuche das Lied zu erkennen, aber ich kann den Text nicht verstehen, höre nur die Bässe, die durch die Bodendielen hämmern.
Am Kopf der Treppe halte ich kurz inne. Hanas Zimmertür ist zu. Ich erkenne es eindeutig nicht, das Lied, das dort läuft â oder eigentlich eher dröhnt, so laut, dass ich mir ins Gedächtnis rufen muss, dass Hanas Haus auf allen vier Seiten von Bäumen und Rasen abgeschirmt wird und ihr niemand die Aufseher auf den Hals hetzen wird. Es ist vollkommen anders als alle Musik, die ich je gehört habe. Es ist eine kreischende, schrille, wilde Art Musik: Ich kann noch nicht mal sagen, ob der Sänger ein Mann oder eine Frau ist. Kleine elektrisch geladene Finger klettern meine Wirbelsäule hinauf, ein Gefühl, das ich immer als Kind hatte, wenn ich in die Küche schlich, um mir aus der Speisekammer einen Keks zu stibitzen â kurz bevor ich das Knarren und Knirschen der Schritte meiner Mutter in der Küche hinter mir hörte und schuldbewusst herumwirbelte, die Hände und das Gesicht voller Krümel.
Ich schüttele das Gefühl ab und stoÃe Hanas Tür auf. Sie sitzt am Computer, die FüÃe auf dem Tisch, wippt mit dem Kopf und klopft einen Rhythmus auf ihre Oberschenkel. Sobald sie mich sieht, wirft sie sich nach vorn und schlägt auf ihre Tastatur. Die Musik verstummt augenblicklich. Eigenartigerweise wirkt die folgende Stille genauso laut.
Hana wirft die Haare über eine Schulter und rutscht vom Tisch weg. Etwas blitzt in ihrem Gesicht auf, ein Ausdruck, der zu schnell wieder weg ist, als dass ich ihn identifizieren könnte. »Hi«, flötet sie etwas zu fröhlich. »Hab dich gar nicht reinkommen hören.«
»Ich bezweifle, dass du mich gehört hättest, wenn ich die Tür eingetreten hätte.« Ich gehe zu ihrem Bett rüber und lasse mich darauffallen. Hana hat ein französisches Bett mit drei Daunenkissen. Es ist himmlisch. »Was war das?«
»Was war was?« Sie zieht die Knie an die Brust und dreht sich einmal mit ihrem Stuhl im Kreis. Ich stütze mich auf die Ellbogen und betrachte sie. Hana stellt sich nur dann so blöd, wenn sie etwas zu verbergen hat.
»Die Musik.«
Sie sieht mich immer noch verständnislos an.
»Das Lied, das du in voller Lautstärke gehört hast, als ich reinkam. Das, wovon mir fast die Trommelfelle geplatzt sind.«
»Ach das .« Hana pustet sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Damit verrät sie sich auch. Immer wenn sie blufft, spielt sie ständig mit ihren Haaren herum. »Nur eine neue Band, die ich im Netz entdeckt habe.«
»Bei BEMF ?«, hake ich nach. Hana ist Musikfan und hat früher Stunden damit verbracht, durch die BEMF zu surfen, die Bibliothek der erlaubten Musik und Filme.
Hana sieht weg. »Nicht direkt.«
»Was soll das heiÃen, âºnicht direktâ¹?« Das Intranet wird wie alles in den Vereinigten Staaten zu unserem Schutz kontrolliert und beobachtet. Alle Webseiten, alle Inhalte werden von Regierungsstellen geschrieben, so auch die Liste der erlaubten Unterhaltung, die alle zwei Jahre aktualisiert wird. E-Books kommen in die BEB , die Bibliothek der erlaubten Bücher, Filme und Musik kommen in die BEMF , und gegen eine kleine Gebühr kann man das alles auf seinen Computer runterladen. Wenn man einen hat, versteht sich. Ich habe keinen.
Hana seufzt, die Augen immer noch abgewandt. SchlieÃlich sieht sie mich an. »Kannst du ein Geheimnis für dich
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