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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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sie das Armeeabzeichen meines Vaters – einen silbernen Dolch, ein Erbstück von dessen Vater, den sie ständig an einer Kette um den Hals trug – unter ihren Hemdkragen schob, sobald wir das Haus verließen, damit niemand es sah und Verdacht schöpfte. Ich verstand, dass die glücklichsten Momente meiner Kindheit eine Lüge waren. Sie waren falsch, gefährlich und illegal. Sie waren sonderbar. Meine Mutter war sonderbar, ein Freak, und wahrscheinlich habe ich diese Sonderbarkeit von ihr geerbt.
    Eigentlich frage ich mich zum ersten Mal,was sie in der Nacht gefühlt und gedacht haben muss, als sie zu den Klippen hinaus- und dann immer weiterging, die Füße in der Luft. Ich frage mich, ob sie wohl Angst hatte. Ich frage mich, ob sie an mich oder Rachel gedacht hat. Ich frage mich, ob es ihr leidtat, uns zurückzulassen.
    Ich fange auch an, über meinen Vater nachzudenken. An ihn erinnere ich mich überhaupt nicht, obwohl ich einen schwachen, lange zurückliegenden Eindruck zweier warmer, rauer Hände habe. Und ich stelle mir ein großes Gesicht vor, das über meinem schwebt, aber ich glaube, das liegt nur daran, dass meine Mutter ein gerahmtes Foto von meinem Vater und mir in ihrem Schlafzimmer hatte. Ich war damals erst ein paar Monate alt und er hielt mich lächelnd im Arm und blickte in die Kamera. Aber es ist unmöglich, dass ich mich wirklich an ihn erinnere. Ich war noch nicht mal ein Jahr, als er starb. Krebs.
    Die Hitze ist fürchterlich, kompakt, sie gerinnt an den Wänden. Jenny liegt mit weit ausgestreckten Armen und Beinen rücklings auf ihrer Bettdecke und atmet leise mit offenem Mund. Sogar Grace schläft fest und murmelt lautlos in ihr Kissen. Das ganze Zimmer riecht nach feuchtem Atem, Haut, Zungen und warmer Milch.
    Ich klettere aus dem Bett, bereits mit einer schwarzen Jeans und einem T-Shirt bekleidet. Ich habe mir nicht mal die Mühe gemacht, mir meinen Schlafanzug anzuziehen. Ich wusste, ich würde heute sowieso nicht schlafen können. Und bereits früher am Abend habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich saß mit Carol, Onkel William, Jenny und Grace am Abendbrottisch, alle kauten und schluckten schweigend und starrten sich ausdruckslos an, und ich fühlte mich, als drückte die Luft auf mich herab und nähme mir den Atem wie zwei Fäuste, die sich fester und fester um einen mit Wasser gefüllten Luftballon schließen, als mir plötzlich etwas bewusst wurde.
    Hana hat gesagt, es würde nicht in mir stecken, aber sie irrt sich.
    Mein Herz klopft so laut, dass ich es hören kann, und ich bin mir sicher, dass es allen anderen genauso geht – dass meine Tante schon aufrecht in ihrem Bett sitzt, um mich zu schnappen und mir vorzuwerfen, dass ich mich hinausschleichen will. Was natürlich genau das ist, was ich vorhabe. Ich wusste gar nicht, dass ein Herz überhaupt so laut klopfen kann, und es erinnert mich an eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe, die wir in Sozialkunde lesen mussten. Darin geht es um einen Mann, der jemanden umbringt und sich dann der Polizei stellt, weil er überzeugt ist, er könne das Herz des Toten unter seinen Dielenbrettern klopfen hören. Es ist eigentlich eine Geschichte über Schuld und die Gefahren des zivilen Ungehorsams, und als ich sie zum ersten Mal gelesen habe, fand ich sie irgendwie öde und melodramatisch. Aber jetzt verstehe ich sie. Poe muss sich ziemlich oft aus dem Haus geschlichen haben, als er jung war.
    Mit angehaltenem Atem drücke ich die Schlafzimmertür auf und bete, dass sie nicht quietscht. Plötzlich stößt Jenny einen kleinen Schrei aus und mein Herz erstarrt. Aber dann dreht sie sich um, schlingt einen Arm um ihr Kissen und ich atme langsam aus. Sie schläft nur unruhig.
    Im Flur ist es vollkommen dunkel, genau wie im Schlafzimmer meiner Tante und meines Onkels, und die einzigen Geräusche sind das Flüstern der Bäume draußen und das leise Ticken und Ächzen der Wände, der übliche arthritische Klang eines alten Hauses. Schließlich traue ich mich hinaus auf den Flur und ziehe die Zimmertür hinter mir zu. Ich gehe so langsam, dass es sich fast anfühlt, als würde ich mich gar nicht bewegen, und taste mich an den Beulen und Unebenheiten der Tapete bis zur Treppe, dann lasse ich meine Hand Zentimeter um Zentimeter das Geländer hinuntergleiten und gehe auf Zehenspitzen hinab. Selbst so kommt es mir vor, als

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