Delirium
kämpfte das Haus gegen mich, als wollte es unbedingt, dass ich erwischt werde. Bei jedem Schritt scheint etwas zu knarren, zu quietschen oder zu ächzen. Jedes einzelne Dielenbrett bebt und zittert unter meinen FüÃen und ich fange an, in Gedanken mit dem Haus zu feilschen: Wenn ich es bis zur Haustür schaffe, ohne Tante Carol zu wecken, schwöre ich bei Gott, dass ich nie wieder eine Tür zuknallen werde. Ich werde dich nie wieder »alte Bruchbude« nennen, noch nicht mal in Gedanken, und ich werde nie wieder den Keller verfluchen, wenn er mit Wasser vollläuft, und ich werde nie, nie, nie wieder gegen die Schlafzimmerwand treten, wenn ich sauer auf Jenny bin.
Vielleicht hört mich das Haus wirklich, denn wundersamerweise schaffe ich es tatsächlich bis zur Tür. Ich halte noch einen Moment inne und lausche auf das Geräusch von Schritten im Obergeschoss, flüsternde Stimmen, irgendetwas â aber abgesehen von meinem Herzen, das immer noch kräftig und laut schlägt, ist es still. Sogar das Haus scheint zu zögern und sich auszuruhen, denn die Tür schwingt mit einem kaum wahrnehmbaren Flüstern auf und im letzten Augenblick, bevor ich in die Nacht hinaushusche, sind die Zimmer hinter mir so dunkel und leise wie ein Grab.
Auf dem Treppenabsatz zögere ich. Das Feuerwerk ist seit einer Stunde vorbei â ich habe die letzten stotternden Explosionen gehört, wie entfernte Gewehrsalven, als ich mich gerade fürs Bett fertig gemacht habe â und jetzt sind die StraÃen seltsam still und vollkommen leer. Es ist kurz nach elf. Einige Geheilte sind bestimmt noch im Eastern Promenade Park unterwegs. Alle anderen sind zu Hause. Keine einzige StraÃenlaterne brennt. Schon vor Jahren wurden auÃer in den reichsten Gegenden Portlands alle Laternen abgeschaltet und sie kommen mir vor wie erblindete Augen. Gott sei Dank scheint der Mond hell.
Ich lausche auf das Geräusch von vorbeiziehenden Patrouillen oder Aufsehergruppen â beinahe hoffe ich, etwas zu hören, weil ich dann wieder reingehen muss, ins Bett, in Sicherheit. Schon wieder beginnt mich die Panik zu durchbohren. Aber alles ist vollkommen still und ruhig, fast wie erstarrt. Die Stimme der Vernunft ruft mir laut zu, ich solle das Richtige, das Gute tun, umkehren und die Treppe wieder hinaufsteigen, aber die Sturheit irgendwo in meinem Inneren lässt mich weitergehen.
Ich laufe den Weg entlang und schlieÃe mein Fahrrad vom Zaun los.
Mein Rad klappert etwas, vor allem, wenn man anfängt zu treten, deshalb gehe ich ein Stück zu Fuà die StraÃe entlang. Die Reifen surren beruhigend über den Asphalt. Ich war noch nie im Leben so spät drauÃen. Noch nie habe ich die Ausgangssperre missachtet. Aber neben meiner Furcht â die natürlich immer da ist, dieses beständige drückende Gewicht â kämpft sich ein kleines, zuckendes Gefühl der Aufregung nach oben und schiebt die Angst ein wenig zur Seite. So etwas wie: Es ist alles okay, mir geht es gut, ich kann das. Ich bin nur ein Mädchen â ein mittelmäÃiges Mädchen, eins siebenundfünfzig, nichts Besonderes â, aber ich kann das, und keine Ausgangssperre und Patrouille der Welt kann mich aufhalten. Es ist unglaublich, was für ein gutes Gefühl mir dieser Gedanke gibt. Es ist unglaublich, wie er die Angst aufbricht, wie eine winzige Kerze, die mitten in der Nacht angezündet wird, die Umrisse der Dinge sichtbar macht und die Dunkelheit hinwegleuchtet.
Als ich das Ende der StraÃe erreiche, springe ich auf mein Fahrrad und spüre, wie der Gang einrastet. Der Fahrtwind ist angenehm, und ich achte darauf, nicht zu schnell zu fahren, und bin wachsam für den Fall, dass Aufseher in der Nähe sind. Glücklicherweise liegen Stroudwater und die Roaring Brook Farm genau in der entgegengesetzten Richtung des Eastern Promenade Park mit seinen Feierlichkeiten zum vierten Juli. Sobald ich den breiten Streifen Ackerland erreicht habe, der Portland wie ein Gürtel umgibt, dürfte es weniger gefährlich sein. Die Farmen und Schlachthäuser werden selten von Patrouillen kontrolliert. Aber erst muss ich noch durchs West End, wo reiche Leute wie Hana wohnen, durch Libbytown und auf der Congress Street Bridge über den Fore River. Glücklicherweise sind alle StraÃen, in die ich einbiege, leer.
Stroudwater ist eine gute halbe Stunde entfernt, selbst wenn ich schnell fahre. Als ich
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