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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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jeden Moment übergeben zu müssen, besser zurückdrängen. Ich weiß nicht genau, was mich dazu gebracht hat, das Haus zu verlassen, warum ich glaube Hana beweisen zu müssen, dass sie sich irrt, und ich versuche den Gedanken – der viel beunruhigender ist als alles andere – zu ignorieren, dass mein Streit mit Hana nur eine Ausrede war.
    Dass ich vielleicht, tief unten in mir drin, einfach nur neugierig war.
    Jetzt bin ich nicht neugierig. Jetzt habe ich Angst. Und komme mir total dämlich vor.
    Das Farmhaus und die alte Scheune stehen in einer Senke zwischen zwei Bergen, in einem Mini-Tal, als befänden sich die Gebäude genau in der Mitte zwischen zwei geschürzten Lippen. Das Haupthaus kann ich noch nicht sehen, aber je näher ich der Hügelkuppe komme, desto deutlicher und lauter wird die Musik. So etwas habe ich noch nie gehört. Das ist auf keinen Fall die erlaubte Musik, die man auf BEMF runterladen kann, ordentlich, harmonisch und strukturiert, die Art Musik, die bei offiziellen Sommerkonzerten in der Konzertmuschel im Deering Oaks Park gespielt wird.
    Jemand singt. Eine wunderschöne Stimme, dick und schwer wie warmer Honig, strömt so schnell eine Tonleiter hinauf und herunter, dass mir schwindlig wird. Die Musik, die die Stimme untermalt, ist seltsam, unharmonisch und wild – aber nicht zu vergleichen mit dem Heulen und Kratzen, das ich heute aus Hanas Computer gehört habe, obwohl ich bestimmte Ähnlichkeiten erkennen kann, bestimmte Muster in Melodie und Rhythmus. Die Musik heute Vormittag klang fürchterlich und schepperte undeutlich durch die Lautsprecher. Diese Musik hier ebbt ab und schwillt an, ungleichmäßig, traurig. Sie erinnert mich auf eigenartige Weise an die stürmische See, die peitschenden, klatschenden Wellen und das Spritzen der Gischt gegen den Kai.
    Als ich die Musik höre, als ich den letzten Kamm des Hügels erklimme und die halb zerfallene Scheune und das baufällige Farmhaus vor mir liegen, gerade als die Musik anschwillt, eine Welle, kurz bevor sie bricht, verlässt mich mein gesamter Atem auf einmal und ich bleibe, von der Schönheit gelähmt und erstaunt, stehen. Einen Augenblick kommt es mir wirklich so vor, als würde ich aufs Meer hinabschauen – auf einen Ozean aus Menschen, die sich im Licht, das aus der Scheune dringt, winden und tanzen wie Schatten, die sich um eine Flamme drehen.
    Die Scheune ist vollkommen ausgebrannt, oben offen und schwarz vom Feuer, den Elementen ausgesetzt. Nur noch die Hälfte steht überhaupt – einzelne Abschnitte von drei Wänden, Teile des Dachs, das Stück einer erhöhten Plattform, auf der früher wohl Heu gelagert wurde. Dort spielt die Band. Dünne, kümmerliche Bäume wachsen zaghaft auf den Feldern. Ältere Bäume, denen der Brand Rinde, Äste und Blätter genommen hat, zeigen wie Geisterfinger in den Himmel.
    Fünfzehn Meter hinter der Scheune sehe ich den niedrigen Streifen aus Schwärze, wo das unkontrollierte Land beginnt. Die Wildnis. Aus dieser Entfernung kann ich den Grenzzaun nicht erkennen, aber mir ist, als spürte ich den Strom in der Luft summen. Ich war nur ein paarmal in der Nähe des Grenzzauns. Einmal vor Jahren nahm meine Mutter mich mit dorthin, damit ich dem Surren der Elektrizität zuhörte. Die Spannung ist so stark, dass die Luft zu brummen scheint; man kann einen Schlag bekommen, wenn man nur einen Meter entfernt steht. Ich musste meiner Mutter versprechen, ihn nie, nie, niemals anzufassen. Sie erzählte mir, dass damals, als der Eingriff für alle obligatorisch wurde, einige Leute versucht hätten, über die Grenze zu fliehen. Es gelang ihnen nicht, den Zaun mit mehr als einer Hand zu berühren, bevor sie wie Speck gebraten wurden – ich weiß noch, dass sie genau das sagte, wie Speck. Seitdem bin ich ein paarmal mit Hana daran entlanggelaufen, immer sorgsam darauf bedacht, mindestens drei Meter Abstand zu halten.
    In der Scheune hat jemand Lautsprecher und Verstärker und sogar zwei riesige Industrielampen aufgestellt. Die Leute in der Nähe der Bühne wirken blendend weiß und hyperrealistisch, der Rest bleibt dunkel, undeutlich und verschwommen. Ein Lied ist zu Ende und die Menge tost, ein Meeresgeräusch. Ich denke: Sie haben bestimmt das Stromnetz einer der anderen Farmen angezapft. Ich denke: Was für eine blöde Idee, ich finde Hana nie, hier sind viel zu viele

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