Delirium
Bronsons Fall gab es noch nicht mal Beweise. Es war einfach ein Gerücht.
Drew winkt mir halbherzig zu. »Hallo, Lena.«
Mein Mund klappt auf und zu. Immer noch kein Ton. Einen Augenblick stehen wir da und schweigen unbehaglich. Dann streckt er mir unvermittelt einen Becher entgegen, eine ruckartige Geste. »Whiskey?«
»Whiskey?«, gebe ich quiekend zurück. Ich habe erst ein paarmal in meinem Leben Alkohol getrunken. An Weihnachten, wenn Tante Carol mir ein Viertelglas Wein einschenkt, und einmal bei Hana, als wir Brombeerlikör aus der Bar ihrer Eltern stibitzten und tranken, bis sich die Decke über uns zu drehen begann. Hana lachte und kicherte, aber mir gefiel es nicht, ich mochte weder den süÃen, übelkeiterregenden Geschmack in meinem Mund noch die Art, wie meine Gedanken auseinanderzudriften schienen wie Nebel im Sonnenlicht. AuÃer Kontrolle â das fand ich furchtbar.
Drew zuckt mit den Achseln. »Gab nichts anderes. Der Wodka ist bei diesen Veranstaltungen immer als Erstes alle.« Bei diesen Veranstaltungen â so wie in: Diese Veranstaltungen finden statt, also: öfters .
»Nein, danke.« Ich versuche ihm den Becher zurückzugeben. »Hier.«
Er winkt ab, offenbar versteht er mich falsch. »Kein Problem. Ich hol einfach noch einen.«
Drew lächelt Hana kurz zu, bevor er in der Menge verschwindet. Ich mag sein Lächeln, die Art, wie es sich schief bis zu seinem linken Ohr hochzieht â aber als mir bewusst wird, dass ich darüber nachdenke, ob mir sein Lächeln gefällt, spüre ich, wie die Panik mich durchströmt, in meinem Blut pulsiert, eine Zukunft voller Getuschel und Anklagen.
Kontrolle. Es geht um Kontrolle.
»Ich muss los«, gelingt es mir zu sagen. Ein Fortschritt.
»Los?« Sie runzelt die Stirn. »Du bist den ganzen Weg hier rausgelaufen â¦Â«
»Ich bin mit dem Rad gekommen.«
»Okay. Du bist also den ganzen Weg mit dem Rad hier rausgefahren und jetzt willst du gleich wieder gehen?« Hana greift nach meiner Hand, aber ich verschränke schnell die Arme. Einen Moment lang wirkt sie verletzt. Ich gebe vor zu zittern, damit sie sich nicht mies fühlt, und frage mich, warum es gerade so komisch ist, mit ihr zu reden. Sie ist meine beste Freundin, das Mädchen, das ich seit der zweiten Klasse kenne, das Mädchen, das immer ihre Kekse mit mir teilte und einmal Jillian Dawson mit der Faust ins Gesicht schlug, nachdem Jillian gesagt hatte, meine Familie sei einfach krank.
»Ich bin müde«, sage ich. »Und ich sollte nicht hier sein.« Ich würde am liebsten sagen: »Du solltest auch nicht hier sein«, aber ich verkneife es mir.
»Hast du die Band gehört? Sie sind groÃartig, oder?« Hana ist viel zu nett, total Hana-untypisch, und ein durchdringender, stechender Schmerz trifft mich unter den Rippen. Sie versucht höflich zu sein. Sie benimmt sich, als wären wir Fremde. Sie spürt auch, dass es verkrampft ist.
»Ich ⦠ich hab sie verpasst.« Aus irgendeinem Grund soll Hana nicht wissen, dass ich sehr wohl dabei war und dass ich sie sehr wohl groÃartig finde, mehr als groÃartig. Es ist zu persönlich â sogar peinlich, etwas, wofür man sich schämen muss, und obwohl ich den ganzen Weg hierher zur Roaring Brook Farm gekommen bin und die Ausgangssperre missachtet habe und all das, nur um sie zu treffen und mich zu entschuldigen, kehrt das Gefühl von heute Morgen zurück: Ich kenne Hana nicht mehr und sie kennt mich auch nicht richtig.
An ein gewisses Doppelgefühl bin ich gewöhnt, daran, eine Sache zu denken und eine andere tun zu müssen, an dieses ständige Tauziehen. Aber irgendwie ist Hana ganz eindeutig in die andere Hälfte hinübergerutscht, in die andere Welt, die Welt der unaussprechlichen Gedanken, Dinge und Menschen.
Kann es denn sein, dass ich die ganze Zeit über vor mich hin gelebt habe, für Arbeiten gelernt habe, lange Strecken mit Hana gelaufen bin â und diese andere Welt einfach so existiert hat, parallel zu meiner oder darunter, lebendig, um aus den Schatten und Gassen zu schlüpfen, sobald die Sonne untergegangen ist? Illegale Partys, unerlaubte Musik, Leute, die einander berühren, ohne Angst vor der Krankheit zu haben, ohne Angst um sich zu haben.
Eine Welt ohne Angst. Unmöglich.
Und obwohl ich mitten in der gröÃten Menge stehe, die ich je gesehen habe, fühle ich
Weitere Kostenlose Bücher